Das Asylgesuch von Arezu Eljasi wurde im Mai abgelehnt. Doch die iranische Kurdin hat Beschwerde eingereicht. Täglich kriege sie Drohungen aus ihrem Herkunftsland.
Normalerweise fährt Arezu Eljasi mehrmals die Woche von Aarwangen nach Zürich, um dort in der Bibliothek zu lernen. Sie paukt für Prüfungen, die sie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zulassen würden. Dort möchte sie Aviatik studieren. Geht es nach dem Staatssekretariat für Migration (SEM), wird daraus nichts. Denn der Bund hat Eljasis Asylgesuch abgelehnt. Ende Juli hätte sie in den Iran ausreisen müssen. Doch sie hat Beschwerde eingereicht. Als Kurdin gehört sie zu einer unterdrückten Minderheit in ihrem Herkunftsland.
Im Moment hat die 22-Jährige viel um die Ohren: die Beschwerde, die Prüfungsvorbereitungen, der emotionale Stress. Der Weg nach Zürich kostet sie Zeit, die sie ins Büffeln investieren könnte. Also bleibt sie in der Kollektivunterkunft Aarwangen, die vor einiger Zeit zu einem Rückkehrzentrum umfunktioniert wurde, und lernt dort.
Wanderjahre
Seit März 2019 wohnt Arezu Eljasi in Aarwangen. Es ist die vierte Station in der Schweiz. Zuvor hat sie mit ihrer Familie in einer Wohnung in Langenthal gelebt. «Dort war es am besten», sagt sie. Kurzzeitig waren sie in einem Asylzentrum in der Stadt Bern untergebracht, nachdem sie im jurassischen Moutier bei einem Paar im Pfarrhaus untergekommen waren. «Mit ihnen haben wir immer noch regelmässig Kontakt», sagt Eljasi. Geflüchtet ist die Familie 2015 aus dem Iran. Arezu Eljasi war damals 18 Jahre alt, ihr jüngstes Geschwister 2-jährig.

Zurück in ihr Herkunftsland könne Arezu Eljasi nicht: «Dort gibt es für Kurdinnen keine Menschenrechte», sagt sie. Die Rechte der Kurden würden im Iran mit Füssen getreten, sagt auch ihr Anwalt Urs Ebnöther, der ihre Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht verteidigt. In den letzten vier Jahren habe sich dort die Situation für Kurdinnen und Kurden verschärft.https://datawrapper.dwcdn.net/3KmC0/1/Die Flucht aus dem Iran führt meist durch die Türkei, über das Mittelmeer nach Griechenland und über das Balkangebirge. Zu Fuss, per Boot und Auto.Grafik: Datawrapper
Längst ist Eljasi mit ihrem Anliegen also nicht mehr allein. Nebst dem Rechtsverteidiger unterstützt eine Freundin sie, wenn es etwa ums Übersetzen von offiziellen Dokumenten geht. Denn diese erhält sie vom SEM auf Französisch. Zudem steht ihr die Pfarrerin von Oberbipp bei. Gemeinsam mit Sybille Knieper hat Eljasi eine Onlinepetition gegen ihre Ausschaffung lanciert. Bis heute haben sie 21’483 Personen unterzeichnet. «Sybille Knieper ist für mich wie ein Engel, sie hilft mir und meiner Familie extrem», sagt Eljasi.
Knieper-Meyer beschreibt Eljasi als engagiert, interessiert und «politisch sehr aktiv». Sie sei etwa auch im Exilfernsehen aufgetreten. Wie ihre Eltern sei sie ebenfalls aktiv für die Demokratische Partei Kurdistans, die eine autonome Region fordere, sagt Eljasi. Sie sei Mitglied bei der Jugend und den Frauen. Sie teilt ihre feministische und regierungskritische Meinung auf den sozialen Medien, etwa auf der Onlineplattform Instagram, wo sie für die ganze Welt sichtbar ist. Dieses Verhalten könnte bei einer Rückkehr in den Iran für Eljasi zum Problem werden. Als Kurdin stehe sie unter intensiver Beobachtung der iranischen Behörden, sagt ihr Anwalt.
Auf den sozialen Medien erhält sie zwar international Unterstützung, kriegt aber auch Hassnachrichten. Und dies jeden Tag, sagt sie. Der Grund: Sie kritisiert die iranische Regierung. Die meisten Drohungen kämen aus dem Iran, doch eine sei aus Deutschland gekommen, sagt Eljasi. Sie vermutet, dass die Absender mit dem Regime in Verbindung stünden: Auf den sozialen Medien hätten sie Bilder vom iranischen Offizier Qassem Soleimani oder von Ali Khamenei, dem politischen und religiösen Oberhaupt des Iran.
Sie wacht mit Drohungen auf
Das Schlimmste sei gewesen, als ein Perser ihr damit gedroht habe, ein kurdisches Mädchen sexuell zu missbrauchen, wenn sie nicht mit ihren Meinungsbekundungen aufhören würde. «Nur weil sie Kurdin ist», sagt Eljasi. Zum Beweis habe er ihr Nacktfotos vom Mädchen geschickt. «Wenn ich so was sehe, werde ich richtig wütend.» Insgesamt fünf Hassnachrichten habe sie von dieser Person erhalten. Andere Verfasser drohen ihr mit Vergewaltigung und dem Tod. Diese Drohworte seien teilweise das Erste, was sie am Morgen sehe. Manche lösche sie direkt, ohne sie zu lesen.
Die Nachrichten und Bilder habe sie der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht beigelegt, sagt Eljasi. Doch das SEM nimmt in einem offiziellen Dokument, das dieser Zeitung vorliegt, wie folgt Stellung: Arezu Eljasi habe kein «solides politisches Profil», das sie in die Schusslinie der iranischen Behörden bringen würde. Aus Sicht des SEM geht von den Drohungen keine tatsächliche Gefahr aus, da es sich bei den Absendern nicht um iranische Autoritäten handle.
Das iranische Spitzelsystem
Urs Ebnöther, Eljasis Anwalt, sieht das anders. Aufgrund der Verschiedenartigkeit der Hasstexte vermutet er, dass zumindest einzelne dieser Personen mit den iranischen Behörden in Verbindung stünden. Er verweist auf das iranische Spitzelsystem: «Es ist im In- und Ausland weit verzweigt», schreibt er in seiner Stellungnahme. Das sei allgemein bekannt.
Ausserdem seien Kurdinnen und Kurden, die ihre Meinung für andere erkennbar äussern, im Iran einem «realen Verfolgungsrisiko» ausgesetzt, schreibt der Rechtsanwalt. Eljasi habe sich öffentlich klar exponiert und gerate deshalb in den Fokus der iranischen Behörden. Zusätzlich gehöre die 22-Jährige zu einer bekannten, politisch aktiven Grossfamilie. Ebnöther verweist zudem auf die Benachteiligung von Frauen im Iran.
«Zu strenge» Asylpraxis
Ob der Anwalt beim Bundesverwaltungsgericht Erfolg haben wird, ist ungewiss. Denn die Schweiz verfolge wohl eine zu strenge Praxis mit iranischen Kurden, sagt Ebnöther am Telefon. Grossbritannien etwa schätze das Verfolgungsrisiko – wie andere europäische Länder auch – als viel grösser ein: Laut dem britischen Obergericht sei die Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie bereits ein Risikofaktor. Mit der öffentlichen politischen Meinungsäusserung sei ein reales Verfolgungsrisiko gegeben. Wer im eigenen Land verfolgt wird, hat nach der internationalen Genfer Flüchtlingskonvention Recht auf Asyl. Wann das Gericht darüber entscheidet, ist allerdings unklar.
Es ist eine belastende Zeit für die 22-Jährige. Doch: «Ich muss weiter lernen und nicht daran denken», sagt sie mit belegter Stimme. Das sei allerdings oft eine Herausforderung. Eine Mutter mit sieben Kindern wohne im Rückkehrzentrum in den zwei Zimmern gegenüber. Bis um zwei Uhr morgens höre sie Kindergeschrei oder Musik, erzählt Eljasi. «Es ist schwierig, so zu lernen», sagt sie und atmet schwer aus.
Ein Bad für 14 Personen
Sie lebt mit ihren Eltern und drei Geschwistern auch in zwei Zimmern, keines der Familienmitglieder hat einen positiven Asylentscheid erhalten. Ein Raum umfasse etwa 15 Quadratmeter, sagt Eljasi. Das Bad muss sich ihre Familie mit der achtköpfigen Nachbarsfamilie teilen: eine Dusche, ein WC und ein Lavabo für 14 Personen. Seit die ORS AG die Unterkunft übernommen habe, sei die Wohnsituation viel schlimmer geworden, sagt Eljasi.
Seit fünf Jahren sind sie und ihre Familie nun in der Schweiz. Eljasi scheint gut integriert zu sein, das bestätigt auch die Pfarrerin Sybille Knieper. Sie habe Verwandte, die hier lebten, und Freunde, die sie unterstützten, sagt sie. Zudem spricht sie fliessend Deutsch. Manchmal geht sie mit ihrer Familie an der Aare spazieren. «Mit der Beschwerde bin ich etwas ruhiger geworden», sagt Eljasi. Die Ausreisefrist sei damit für den Moment aufgehoben. «Trotzdem ist es eine stressige Zeit», sagt sie. «Ich hoffe auf einen fairen Richter.»
Mitte August hat für Eljasi die Prüfungssession begonnen. Besteht sie, hat sie bereits weiterführende Pläne: «Ich möchte sehr gerne eine Pilotenausbildung machen.» Doch dazu benötige sie den Schweizer Pass, der wohl noch in weiter Ferne liegt. Mit einem Abschluss in Aviatik könne sie immerhin bei der Lufthansa arbeiten. Sollten für die Zürcher Hochschule alle Stricke reissen, hätte sie immer noch eine Zusage für die Hochschule Luzern.