Daniel Christen lebte lange unwissentlich mit dem Asperger-Syndrom und hat nun in Langenthal eine Selbsthilfegruppe initiiert. Er und eine Kollegin erzählen.
Die Sozialpädagogin Silvia Kiener und eine weitere Frau stehen in einem Raum irgendwo in Langenthal. Die Unbekannte schaut bei der Begrüssung immer wieder leicht nervös zum geöffneten Fenster: Es lässt das Brausen der vorbeifahrenden Fahrzeuge herein.
Sie hat das Asperger-Syndrom, macht bei einer Selbsthilfegruppe in Langenthal mit und möchte anonym bleiben. Sie wird hier Mirjam Schmid genannt. Und sie bittet darum, das Fenster zu schliessen. Sie brauche Ruhe für ein Gespräch. Dann nimmt sie Platz.
Nach einigen Minuten tritt ein Mann in den Raum und setzt sich mit dem derzeit obligaten Sicherheitsabstand neben Schmid. Auch er hat das Syndrom. Er gibt seinen Namen preis, Daniel Christen. Es war seine Idee, eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Asperger-Syndrom zu gründen. Sein Antrieb: Über das «Anders-Sein» sprechen – «weil es hilft».
Silvia Kiener ist Fachleiterin beim Beratungszentrum Selbsthilfe Bern in Burgdorf und hat Christen im Herbst bei der Gründung der Gruppe unterstützt. Mittlerweile zählt diese sechs Teilnehmende. Sie treffen sich einmal pro Monat in Langenthal. Der genaue Ort bleibt geheim, um die Anonymität zu wahren.
Eine Flut von Fragen
Bei Mirjam Schmid hat die Diagnose im Juni eine Flut von Fragen ausgelöst. Im positiven Sinne. Als sie zu sprechen beginnt, fängt sie an, mit dem Kugelschreiber zu klicken. Kontrolliert, sodass man es kaum hört.
«Was ist die Grundidee hinter Ordnung? Wofür sind Beziehungen? Wie funktioniert ein Gespräch, und was ist der Sinn dahinter?» All diese Fragen habe sie vor der Diagnose unterdrückt, weil sie sonst nicht mehr funktioniert hätte, sagt sie. Christen nickt zustimmend, den Blick auf den Holztisch gerichtet. «Ich durfte mich nicht wahrnehmen», sagt Schmid mit ruhiger, weicher Stimme. Nun wisse sie, wie sie zu sich Sorge tragen könne und wo ihre Grenzen lägen. Und sie kann ihre Frageliste abarbeiten – etwa beim Psychiater.
Sie steht beispielsweise in Frauenangelegenheiten an. Herkömmliche Aufklärungsbücher gäben ihr keine Antwort auf ihre Fragen zum weiblichen Zyklus. Trotz dieser Unklarheiten hat sie eine Alleingeburt geschafft – die nur eine Stunde dauerte. Sie war zum dritten Mal schwanger. Da wurde ihr bewusst, dass eine Hebamme an ihrer Seite sie überfordere. Also las sie alles Mögliche über autonomes Gebären. «Es war perfekt.»
Interessiert sie sich für etwas, taucht sie gänzlich in das Thema ein. Aber ihr eigenes Alter musste sich die 35-Jährige für das Treffen aufschreiben: «Seit ich 17 Jahre alt bin, muss ich jedes Mal rechnen.» Sie vermutet, dass sie unter Dyskalkulie leide – eine häufige Begleiterscheinung des Asperger-Syndroms. Daniel Christen schliesst sich an: «Ich habe auch schon meinen Geburtstag vergessen.»
Das sinnvolle Chaos
Wie für Schmid ergibt auch für Christen das Grundprinzip der Ordnung oftmals keinen Sinn. Auf seinem Schreibtisch faltet er Bücher. Zur Ausrüstung gehören etwa eine Schere, ein Skalpell und ein Lineal. «Manche Leute würden meinen Schreibtisch als chaotisch bezeichnen.» Er finde die Objekte jedoch blind.

© Daniel Christen
Seine Ordnung, seine Normalität. Lange habe er sich als Aussenseiter gefühlt. In der Schule sei er in Gedanken oft abwesend gewesen, ein «Träumer». Das Gefühl des Aussenseiters zog sich bis zu seiner Diagnose vor einem Jahr hin. Dann sei er davon losgekommen, die «Neurotypischen» als normal anzusehen. Den Begriff brauchen Menschen mit Asperger-Syndrom für Menschen, die in der Gesellschaft als normal gelten. Sie dominieren und definieren daher die Normen.
Nun können Schmid und Christen sich in der Selbsthilfegruppe in Langenthal mit anderen austauschen. Das helfe insbesondere, weil sie über den Umgang mit lokalen Neurotypischen sprechen könnten.
Bei einem Gespräch etwa müsse sie sich auf die nonverbale Kommunikation konzentrieren und dann auch noch interessanten Gesprächsstoff liefern, sagt Schmid. Weil es so erwartet werde. Sie habe gute Geschichten auf Lager. Doch die Treffen mit Neurotypischen schlauchten sie. Eine «sensorische Überlastung», nennt sie es. Erneutes Nicken von Christen.
Internationale Onlineforen hälfen ebenso, sagt Schmid: «Da kann ich fragen: ‹Sitzt ihr auch immer 20 Minuten vor der laufenden Waschmaschine und schaut durch die Glastür hindurch zu?›» Eine Person antworte dann: «Total.» Die andere: «Nein, die Vibration macht mich verrückt.» Oder: «Ich setz mich drauf, das beruhigt.» Hier könne sie viele ihrer Fragen stellen, die sich über 35 Jahre hinweg angestaut hätten. Denn erst in diesem Alter wurde Mirjam Schmid auf das Syndrom diagnostiziert. Daniel Christen war sogar 44 Jahre alt.
Der heute 46-Jährige ging bei sich lange von einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) aus. Erst als er sich untersuchen liess, brachten Tests zutage, dass er das Asperger-Syndrom hat – und einen Intelligenzquotienten von 126.
«Der Asperger in mir»
Als Christen mit 44 Jahren die Diagnose erhielt, sei bei ihm eine Wand eingebrochen, erzählt er. «Vorher hatte ich immer das Gefühl, ich rennte gegen eine Mauer.» Dahinter die Freiheit. «Von da an konnte ich den Asperger in mir herauslassen», sagt er. Denn früher sei er zu Hause die eine Person gewesen, bei der Arbeit im Restaurant eine andere.
Nur zweimal sei der Asperger vor den Gästen aufgetaucht und habe sich mit seiner unverfrorenen Direktheit gezeigt. Er bediente einen Tisch. Einer der vier Männer nannte ihn dauernd «Junior». Als dieser die Rechnung bestellte und wieder ein «Junior» hintendran hängte, kam die Retourkutsche: «Erstens, wir sind nicht per Du. Zweitens, ich bin ein Erwachsener wie du auch und kein Junior.» Die anderen drei Männer seien in Gelächter ausgebrochen. Das habe ordentlich Trinkgeld gegeben, sagt er mit einem süffisanten Lächeln.
Eine erfrischende Direktheit. Doch manchmal seien die Leute auch etwas überfordert, sagt er. Etwa mit seinen makabren Witzen.
Gegen Ende des Gesprächs klingelt in regelmässigen Abständen Mirjam Schmids Mobiltelefon. Sie drückt die Anrufe ganz nebenbei weg. Ein Blick auf die Uhr zeigt jedoch: Sie muss wohl nach Hause zu ihren Kindern. Es ist kurz vor Mittag.
Das Leben mit dem Syndrom
Das Asperger-Syndrom ist eine Variante des Autismus. Das Spektrum an Ausprägungen ist breit. Laut dem Verein Autismus deutsche Schweiz zeigt sich das Asperger-Syndrom oft schon im Kindergarten- oder Schulalter. Manchmal stellen Ärztinnen oder Ärzte aber erst im Erwachsenenalter die Diagnose, wie etwa bei Daniel Christen oder Mirjam Schmid (siehe Haupttext).
Betroffenen fällt es schwer, sich in andere hineinzuversetzen. Ironie verstehen sie kaum, Signale wie Mimik und Gestik können sie nur selten deuten. In einer Gesundheitsgeschichte im «Beobachter» ist zu lesen, dass die meisten Betroffenen normal oder überdurchschnittlich intelligent sind und das Syndrom beim männlichen Geschlecht deutlich häufiger auftritt als beim weiblichen Geschlecht. Laut Schätzungen sind insgesamt 2 bis 3 von 10’000 Kindern betroffen.
Selbsthilfe BE engagiert sich im Auftrag des Kantons für die gemeinschaftliche Selbsthilfe. Im Kanton gibt es mehr als 230 Selbsthilfegruppen, über 30 davon in den Regionen Emmental und Oberaargau. Zu den Aufgaben der Beratungszentren gehören das Informieren über Selbsthilfegruppen sowie das Gründen und Vermitteln ebendieser.