Paul Lerch feiert am Sonntag seinen 100. Geburtstag. Er musiziert, war früher oft in der Natur und ass auch mal eine Schnecke. Sie war sein Heilmittel.
Paul Lerch lernte im welschen Courgenay sprechen. Im Jahr 1928 zogen seine Familie und er nach Gondiswil. Er war damals acht Jahre alt, in der vierten Klasse schaffte er den Übertritt in die Sekundarschule.
Doch das bedeutete, jeden Tag bis nach Huttwil zu pendeln. Im Sommer mit dem Fahrrad, im Winter zu Fuss. Sein Schulweg dauerte zwei Stunden. Wenn es schneite, kam er mit klitschnassen Socken im Schulzimmer an. Dort konnte er sie über den Heizkörper hängen. Für den Heimweg waren sie dann nicht mehr nass, sondern nur noch feucht.
Solche Geschichten erzählt Paul Lerch bei einem Treffen in seinem Zuhause, im Pflegeheim Lebensart in Aarwangen. Treffpunkt: Ein Sitzungszimmer mit weissen Wänden und einem austauschbaren Tisch.
Am Sonntag wird Lerch 100 Jahre alt. Neben ihm sitzt seine Tochter Margaretha Kraemer und wiederholt fast jede Frage für ihn, da er sie nicht versteht: «Sein Hörgerät sitzt wohl heute nicht richtig», meint sie.
Lerch will sein stolzes Alter mit der Familie feiern: Seinen 3 Kindern, 4 Gross- und 7 Urgrosskindern. Seine Frau ist nicht mehr dabei, sie ist 2003 gestorben. Ob das Fest stattfindet, ist wegen der Corona-Pandemie noch unklar.
Ehrenmitglied der Musikgesellschaft
Doch nicht nur seine Familie will ihn feiern, auch die Musikgesellschaft Aarwangen. Sie gibt dem Ehrenmitglied am Sonntag voraussichtlich ein Konzert: Die Musizierenden stehen draussen, alle Interessierten des Pflegeheims können drinnen sitzen. Lerch hat selbst lange musiziert, mit 17 Jahren einige Zeit in der Musikgesellschaft Gondiswil. Als junger Erwachsener zog er zu seiner frisch Liierten nach Aarwangen und trat in die lokale Musikgesellschaft über. Erst als Trompeter, später als Althorn-Bläser.
Heute ist er im Heim in einer gemischten Gesangsgruppe: «Ich singe als einziger Mann mit Ton.» Die anderen Männer würden nur die Lippen bewegen. Und jeden Tag singe er auch auf dem Hometrainer. Zum Pedalen trällert er etwa «Niene geits so schön u lustig» oder «Ramseyer». Um zu beweisen, dass er die Strophen noch beherrscht, hält er ein Ständchen.
Dass er sich noch an die Zeilen erinnert, ist nicht selbstverständlich. Während des Lockdowns im Frühling habe er schwer gelitten, sagt seine Tochter. Der soziale Kontakt fehlte ihm. Und damit auch das Gedächtnistraining. Im Gespräch nickt er zwischendurch ein.
Der Schnecken-Sirup
Laut seiner Tochter war er in seinen 100 Lebensjahren grösstenteils gesund. Doch mit etwa 60 Jahren hatte er ein Magengeschwür. Statt sich von seinem Arzt behandeln zu lassen, ging er in den Wald: «Ich habe eine rote Schnecke gesucht», sagt Lerch. Ein Freund habe ihm dazu geraten – und dass er sie dann lebendig hinunterschlucke. Der Schleim würde sich über das Geschwür verteilen und heilen. Gefunden, gegessen.
Es blieb nicht bei einer Schnecke, viele folgten. Und dann, tatsächlich: Das Geschwür löste sich auf – ganz ohne medizinische Behandlung, sagt die Tochter.
Damit der Magen geschwürfrei blieb, fuhr Lerch mit der Therapie fort. Er liess einige rotbraune Schnecken – nicht ganz tierschutzgerecht – über Zucker schleichen. Die Tiere lösten sich mit dem Zucker auf, er sammelte die nun süsse, schleimige Paste ein und verarbeitete sie zu Likör. Er nennt ihn den «Schnecken-Sirup».
Ein einziger Vater
Der gelehrte Kaufmann war immer gerne in der Natur. Seinen Garten habe er bis ins hohe Alter akribisch gepflegt, sagt seine Tochter. Die Setzlinge platzierte er mit einem Massband. «Und du bist oft mit deinen drei Hunden spazieren gegangen, gell Vati?» Seine Antwort: «Nicht mit allen aufs Mal, ich hatte sie nacheinander.»
Solche Sprüche habe er häufig gemacht, sagt Kraemer. Wenn er zum Arzt ging, hätten ihn deswegen immer alle vom Pflegepersonal begleiten wollen. War er denn auch als Vater so? Die Tochter antwortet: «Er war sehr lieb, jedoch streng. Aber gell, du warst der beste Vater?» Lerch kontert: «Du hattest ja nicht zwei.»
Mit ihrem einen – und einzigen Vater – machte Kraemer diesen Sommer einen Ausflug nach Courgenay. Lerch wollte sehen, wie sein früheres Zuhause heute aussieht. Beim Haus angekommen, meinte er: «Das ist es nicht. Wir besassen weder Garage noch diese Gartenmauer.» Kraemer fragte die heutige Besitzerin, ob sie etwas verändert habe. Und tatsächlich: diese zwei Dinge. Die Kindheit bleibt auch einem 100-Jährigen in Erinnerung.