Iris Zumstein-Biedermann lebt nachhaltig. Sie bezeichnet sich aber nicht als Grüne, weil sie gegen eine offene Ausländerpolitik ist. Ein Porträt über die Parteilose.
Die neue Gemeindepräsidentin, Iris Zumstein-Biedermann, trägt einen hellgrauen Mantel, passend zum anthrazitfarbigen Auto, mit dem sie die Journalistin am Bahnhof Attiswil abholt. Die Fahrt führt aus dem Dorf und den Jurasüdfuss entlang hoch.
In den Kurven führen Zumstein-Biedermanns Hände das Lenkrad ruhig. Sie hat keine Bürohände, sondern kräftige Finger. Über die linke Hand zieht sich eine Narbe von den Fingerknöcheln bis zum Handgelenk.
Das schmerzende Highlight
Die Narbe hat sie sich während ihrer Ausbildung zur Schaltanlagemonteurin geholt. Als sie einmal Aluschienen zuschnitt, war die Schutzvorrichtung blockiert. Ihre linke Hand geriet in die Maschine. «Für die zuständige Chirurgie war es ein Highlight, so viele Ärzte auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen.» Die Operation dauerte lange, später brauchte sie mehrere Hauttransplantationen. Heute hat sie noch einen steifen Daumen, dafür keine Schmerzen mehr.
Nach dem letzten Haus an der Panoramastrasse erscheint eine Linde. Die Sitzbank unter dem Baum ist einer von Zumstein-Biedermanns Lieblingsplätze in Attiswil. Hierhin joggt sie hoch – wenn sie Zeit findet. Zu Hause kocht und haushaltet sie für ihre drei Kinder und ihren Mann. In dessen Zimmerei Zumstein im Dorf ist sie für die Administration zuständig. Und dann ist da ja auch noch die Politik.
Rückhalt aus dem Dorf
Im Oktober wählten die Stimmberechtigten die parteilose Bürgerliche mit einem so deutlichen Resultat in den Gemeinderat, dass die ortsansässige SVP sie als Präsidentin vorschlug. Von der SP, der anderen Partei im Rat, kam kein Widerstand.
Zumstein-Biedermann wollte nach ihrer Zeit in der Kommission für Umwelt, Landschaft und Imagepflege erstmals eine Amtsdauer als Gemeinderätin absolvieren. Doch für viele aus dem Dorf war klar: «Jetzt machst du gleich Präsidentin, gell?»
Die Politik in Attiswil ist im Wandel
Wie in anderen Gemeinden auch gibt es in Attiswil einen Trend zur Parteilosigkeit. Der letzte Gemeindepräsident, Gaudenz Schütz, war parteilos, liess sich aber von der SVP aufstellen. Das Gleiche bei Iris Zumstein-Biedermann. Da stellt sich die Frage: Wie parteilos und unabhängig sind die Politisierenden vor diesem Hintergrund? Wohl einige weniger als andere. Ausserdem steht die Gemeinde vor der Herausforderung, überhaupt Engagierte zu finden: Im Herbst sind gerade mal sechs Kandidierende für fünf Gemeinderatssitze angetreten.
In der letzten Amtsperiode sassen nur Männer im Gemeinderat, nun sind gleich zwei Frauen eingezogen. Und eine davon ist an der Spitze und setzt sich für Nachhaltigkeit ein. Womöglich ein Wendepunkt in der Politik von Attiswil.
Die neue Gemeindepräsidentin parkiert ihr Auto neben ein anderes. Dessen Besitzer erkennt die gebürtige Attiswilerin erst, als sie näher tritt. Sie begegneten sich hier oft beim Spazieren, sagt sie. Doch er komme schon länger hierher als sie: «Seit 80 Jahren», sagt er. «Diese noch so kurzen Gespräche sind für das Dorfleben wichtig», findet sie.
Sie will keine Sonderbehandlung
In ihrem Amt will die 44-Jährige für alle einstehen, sie setzt jedoch keine feministischen Ziele: «Gewisse Frauen erwarten eine Sonderbehandlung. Zum Beispiel, dass ihnen bei Diskussionen direkt das Wort übergeben wird.» An Chancenungleichheit glaubt Iris Zumstein-Biedermann nicht. Sie selbst sei nie aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert worden, sagt sie. «Vielleicht weil ich bereits als Mädchen oft mit den Jungs spielte.»
Und gleichwohl denkt sie, dass sie als junge Mutter, die zu Hause blieb, auf Dinge verzichtet hat. Verzichtet auf eine Weiterbildung und damit auf eine berufliche Weiterentwicklung. Trotzdem bereue sie den Lauf der Dinge nicht.
Von der Bank unter der Linde ist das Dach ihres Elternhauses zu sehen, ein Bauernhof. Dort ist sie als jüngstes von vier Geschwistern aufgewachsen. Mit Kühen, Schweinen, Hühnern und Bienenstöcken. Heute schwirren auch in ihrem Garten Bienen herum – aber wilde. Da zeigt sich, weshalb ihre Hände nach Arbeit aussehen: Sie verbringt viele Stunden in ihrem Naturgarten. «Die Leute belächeln mich vielleicht für meinen wuchernden Garten. Aber er soll eben möglichst natürlich sein.»
Zumstein-Biedermann will sich in ihrem Amt für Nachhaltigkeit einsetzen. Gerade auch in der Landwirtschaft, die Attiswil charakterisiert, soll etwas gehen. Prompt rattert ein Traktor vorbei, die Frau am Steuer, der Mann auf dem Beifahrersitz. Doch für diese Veränderung müsse man den Bauern Zeit geben, sagt die Gemeindepräsidentin.
Eingeengt im kleinen Dorf
Als junge Erwachsene zog sie weg vom abgelegenen Bauernhaus und zusammen mit ihrem Mann in den Dorfkern. Dort, unter den rund 1500 Einwohnerinnen und Einwohnern, fühlte sie sich anfangs eingeengt. Daher zieht es sie auch heute oft in die umliegende Natur. Nie weit weg. Geflogen sei sie insgesamt dreimal, sagt sie: «Immer innerhalb Europas.»
In Attiswil geboren und seit 44 Jahren hier zu Hause. Alle sollten dem Klima zuliebe möglichst in ihrer Region bleiben, findet sie. Trotz ihres ökologischen Denkens bezeichnet sie sich nicht als Grüne: «Die Partei hat eine zu offene Ausländerpolitik.»
Sie ist dagegen, dass Leute migrieren und dann regelmässig mit Auto oder Flugzeug Hunderte Kilometer zurücklegen, um ihre Familie zu besuchen. Hakt die Journalistin bei diesem Thema nach, verhärtet sich ihr Blick leicht. Eine definitive Einwanderung von Geflüchteten begrüsse sie ebenfalls nicht. Die Flucht sollte aus ihrer Sicht verhindert werden. «Für die jeweilige Mitschuld müssen wir auch hier einstehen.» Insbesondere was die Klimaflüchtlingsbewegung angehe. Da sieht sie alle in der Pflicht, ihren Beitrag zu leisten.
Bürgerlich, aber nicht SVP
Der letzte Ansatz passt ins Denkmuster der SVP. Doch ihr widerstrebt die Zentralisierung der nationalen Parteiführung in Zürich. Sie ist für flache Hierarchien. Ihr Blick wird wieder weicher, ihre Haltung entspannter.
Nachhaltig, aber nicht grün. Bürgerlich, aber nicht SVP. Eine Parteilose schlechthin. Ihr Vizepräsident, Marcel Meister von der SP, akzeptiert diesen politischen Trend. Er vermisse aber, dass die Leute Farbe bekennten, sagt er am Telefon. Gleichwohl werde er die Gemeindepräsidentin unterstützen, wo er könne, und stehe hinter ihr.
Daniel Zumstein, der Präsident der lokalen SVP und der nicht näher mit Zumstein-Biedermann verwandt ist, stört sich nicht an der Parteilosigkeit: «Iris hat eine klar bürgerliche Gesinnung», sagt auch er am Telefon. Und: «Die Herren im Gemeinderat sind froh, eine neue Chefin zu haben.»
An der Linde ist ein Schild festgenagelt. Es soll die Leute darauf hinweisen, keinen Abfall liegen zu lassen: «Wie kann man das einem Baum antun? Das widerspricht der Botschaft auf dem Schild komplett.» Ihr enervierter Blick unterstreicht das Gesagte. Nun, als Gemeinderätin und -präsidentin, wird sie schauen, dass dieses baldmöglichst entfernt wird.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof streifen ihre Hände wieder über das Lenkrad. Am rechten Handgelenk blitzt der rosegoldene Anhänger ihres Armbands auf. Eine Biene. Wie die in ihrem Garten.