In der Netflix-Miniserie «Das Damengambit» schlägt die hochbegabte Protagonistin in jungem Alter die besten Schachspieler der Welt. Realistisch? Nicht unbedingt. Dafür ermutigend.
Die 15-jährige Beth Harmon liegt in ihrem Bett und projiziert vor ihrem inneren Auge ein Schachbrett an die Decke. Sie probiert die Figuren von Feld zu Feld zu bewegen. Doch es geht nicht. Immer wieder verwischt der Stoff des Himmelbetts das Bild. Sie holt eine Schere, zerschneidet den Stoff und macht die Decke frei für die fiktiven 64 Schachfelder.
Damit angefangen hat sie im Waisenhaus: Der Hauswart hat ihr den Denksport in seinem Keller beigebracht, am Abend hat sie vom Bett aus an der Decke des grossen Schlafsaals die verschiedenen Ouvertüren und Schachzüge ausprobiert – stets mit ein paar Beruhigungstabletten intus. Mit 15 Jahren adoptiert, will sie in ihrem neuen Zuhause Schach nicht aufgeben. Es ist alles, was sie hat. Niemand nimmt ihr das weg.
Drogen für Waisen
Die Miniserie „The Queen‘s Gambit“ (oder zu Deutsch „Das Damengambit“) basiert auf dem gleichnamigen Roman von Walter Tevis aus dem Jahr 1983 und wurde von Scott Frank und Allan Scott entwickelt. Sie ist seit Oktober auf Netflix und erzählt die Geschichte eines Mädchens, das beide Elternteile verliert, in einem Waisenhaus landet und dort zwei Dinge fürs Leben mitnimmt: Schach und grüne Pillen. Diese werden den Kindern grundlos zur Beruhigung verabreicht. Die Folge: Mehrere werden süchtig, darunter Beth Harmon.
Damit übt die Serie, beziehungsweise der Roman, Kritik an den damaligen Zuständen in Waisenhäusern. Die Geschichte spielt in den 1950er-Jahren im US-amerikanischen Südstaat Kentucky.
Gleichzeitig legitimiert der Schach-Erfolg von Harmon die Droge ein Stück weit: Schluckt sie die Pillen, sind ihre Sinne geschärft und das Schachfeld erscheint tadellos an der Decke. Sind ihr die Pillen ausgegangen, bleibt die Zimmerdecke blank. Die Legitimierung verpufft als die grünen Pillen das junge Genie später einige Schritte zurückwerfen.
Insgesamt legt die unbeirrbare Protagonistin dank ihrer mathematischen Gabe eine Schachkarriere hin, die einem staunend zurücklässt. Und sie ermutigt, die eigenen Ziele zu verfolgen.
Mimik ersetzt Dialoge
Gesprochen wird nicht viel. Das ist auch gut so: Zu viele Dialoge würden die Spannung bei den zahlreichen Schachturnieren stören. Mit den ruhigen Bildern folgt auf Spannung stets Entspannung – eine ideale Mischung.
Ein Grossteil der Szenen fokussiert auf die 64 Felder und die 32 Figuren. Oder auf Beth Harmons Gesicht. Das Gesicht gehört der 24-jährigen Schauspielerin Anya Taylor-Joy. Es ist auch ihre starke Mimik, die Dialoge überflüssig macht. Ein Zucken mit dem Mund oder ein Augenaufschlag verrät: Gleich passiert was. Die Schauspielerin wird für ihre Performance für mehrere Awards nominiert, darunter der Golden Globe Award für die beste Schauspielerin in einer Mini-Serie.
Die Frage stellt sich, weshalb sie in der Miniserie als intelligente Frau auch perfekt gekleidet, frisiert und geschminkt auftreten muss. Können es Frauen, die nicht den Schönheitsstandards entsprechen, nicht ins Rampenlicht schaffen? Gleichzeitig gibt es die konservative Meinung, dass eine Frau entweder hübsch oder intelligent sein kann. Immerhin dieses Vorurteil widerlegt die Serie.
Heldinnen ermutigen Mädchen
Als wäre das nicht genug, bietet die sehr junge Schachspielerin ihren Gegnern die Stirn, den Skeptikern Paroli – im konservativen Südstaat. Ist das realitätsnah? Wohl kaum. Daher könnte man dem Schriftsteller und den Produzenten vorwerfen, dass sie die historischen Umstände verkennen.
Doch genau, das ist die Freiheit der Fiktion: Zeitwidrig historische Verhältnisse umkrempeln. Und damit ermutigt die Serie Mädchen und Frauen, sich auf männlich dominierte Terrains zu begeben. Also ein gelungener Kniff.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Serie überzeugt – von Anfang bis Schluss. Und zwar nicht nur Frauen, die sich über eine Heldinnengeschichte freuen. Nein, dem Vernehmen nach auch Männer. Der Erfolg der Netflix-Serie ist nun wohl auch der Auslöser, dass der Roman im Mai auf Deutsch erscheint. Knapp 40 Jahre nach der Erstpublikation des Buches.