Dass sie auch Frauen liebt – dafür hat sich Lucia Kotikova lange falsch gefühlt. Auf neuen Bühnen und in fremden Städten kommt sie sich selbst näher.
Von Sabine Gfeller

Während Lucia Kotikovas Schulzeit in Dortmund war «schwul» ein Schimpfwort, «lesbisch sein» wurde als falsch betrachtet, und «bisexuell» galt als etwas zwischen Hetero- und Homosexualität, als «weder das eine noch das andere».
«Queer» hingegen ist für sie nicht vorbelastet. Deshalb wählt sie für sich diese Bezeichnung. «Das Tolle an dem Begriff ist seine Fluidität. Du musst dich auf nichts festlegen.» Er beziehe nicht nur Männer und Frauen ein, sondern etwa auch nonbinäre Personen. Also Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.
Ähnlich wie in ihrer Schulzeit fristeten auch im Schauspielbetrieb andere Identitäten und Sexualitäten lange Zeit ein Dasein im Verborgenen.
Nun sitzt die 23-jährige Schauspielerin in der Theaterbeiz Vierte Wand in Bern. Sie trägt ein langärmliges, schwarzes Shirt, das locker über ihren Oberkörper fällt. Ihre kurzen, braunen Haare stehen wild vom Kopf ab, als würden ihr Gedanken und Gefühle aus dem Kopf wachsen.
Seit letztem Sommer gehört sie zum Ensemble von Bühnen Bern und lebt in einem Stadtquartier. Sie spielt oft Rollen, in denen sie ausbricht. Genau wie in den beiden Stücken, die aktuell im Berner Stadttheater und in den Vidmarhallen zu sehen sind.
In «Maria Stuart» geht sie in einer Szene in die Knie und schreit: «Rache!» Pause. «Rache!» Dann: «Raaacheee.» Ihre Augen rollt sie so weit nach oben, dass nur noch das Weisse zu sehen ist.
Als Hippolyta benennt sie in «Ein Sommernachtstraum» die sexuelle Gewalt, die ihr angetan wird, und die Gefühlsleere, die sich in ihr ausbreitet. Kurz: Sie entlarvt und kritisiert im Stück das Patriarchat. In diesem Video sagt Lucia Kotikova, was sie mit ihren zwei Rollen in diesem Theaterstück teilt:
Momentan hat sie einen Zweijahresvertrag am Stadttheater. Im Herbst wird entschieden, ob sie bleibt oder weiterzieht. Ihr soziales Umfeld befindet sich in Bern hauptsächlich am Theater. Wo hat ihr eigenes Selbst Platz, in diesem Leben, das permanent in andere Leben schlüpft? Und wie viel Diversität lässt die Schauspielszene zu?
Verschiedene Abschnitte aus dem Leben einer Schauspielerin erzählt in fünf Akten:
Akt I – Das Wanderleben
«Mir fällt es schwer, auf Menschen zuzugehen», sagt Lucia Kotikova. Trotzdem hat sie diesen Beruf gewählt, in dem sie regelmässig Wohnort wechselt und sich in einem neuen Ensemble einfinden muss. Sie bricht gerne auf. In eine neue Stadt, in die Eigenständigkeit, in neue Projekte. Und sie hasst das Konstante.

Aufgewachsen ist die 23-Jährige in Dortmund. Ihre Mutter hatte eine klare Vorstellung, wie ihre Tochter auszusehen, zu lieben und zu leben hatte. Bereits als Kind wusste Kotikova: «Mit 18 bin ich hier weg.» In Hannover besuchte sie die Schauspielschule. Bern ist Station Nummer drei.
Zuhause sei für sie dort, wo sie wohne, sagt Kotikova. Ihre geschulte Stimme ist ruhig, aber ihre Finger trommeln immer wieder auf die Tischplatte.
Ihre Faszination, in andere Rollen zu schlüpfen, begleitet sie seit der Kindheit. Selbst ihre Erinnerungen können sich wie eine Theaterszene anhören:
Vorhang auf.
Auf der Bühne, die die Wohnung ihrer Eltern ist, sind vier Räume zu sehen. Sie alle haben eine Gemeinsamkeit: In Küche, Wohnzimmer und den zwei Schlafzimmern steht ein Fernseher. Ein kleines Mädchen schaut sich im Wohnzimmer «Moya prekrasnaya nyanya» an, die russische Version der Serie «Die Nanny». Sie spricht die Dialoge mit.
Vorhang zu.
Verbrachte sie das Wochenende bei den Grosseltern, hatte sie stets dieselbe Staffel im Gepäck. «Das brachte meine Grossmütter zum Lachen – ich schaute nichts anderes.»

Akt II – Die Konkurrenz
Einige Leute sprechen an vier Schauspielschulen vor, andere an zwanzig. Lucia Kotikova sprach als Erstes in Hannover vor und schaffte es direkt in die dritte Runde.
Vorhang auf.
In einem Warteraum sitzen Leute, die vorsprechen. Sie unterhalten sich über ihr Vorsprechen in Hamburg und was die Schauspielschule in München gefordert hat. Lucia Kotikova rutscht auf ihrem Stuhl runter, zieht den Kopf ein und denkt sich: Bitte, fragt mich nicht, wie’s bei mir sonst wo war, bitte nicht!
Prompt fragt eine: Wie wars denn bei dir in Hamburg?
Kotikova: Ich war nicht in Hamburg.
Sie: Und in München?
K: War ich auch nicht.
Sie: Ist das dein erstes Vorsprechen?
K: Jup.
Sie: Okay – beim ersten Versuch direkt in der Endrunde gelandet!
Vorhang zu.
Kotikova wurde angenommen. Einige Zeit später schafften sie und ein Kommilitone – bei einer Kooperation des Studiums – es ans dortige Staatstheater. Die neue Intendanz wollte im Ensemble Diversität abbilden. An der Schule gaben einige Personen Kotikova das Gefühl, dass sie nur aufgrund ihrer Erscheinung, die für manche nicht dem stereotypen Bild einer Frau entspricht, ausgesucht wurde.

Da hinterfragte sie sich selbst: Wurde sie fürs politische Statement oder wegen ihres Talents ausgewählt? «Es braucht viel Kraft, diese Zweifel abzuwehren», sagt sie. Zwischendurch knubbeln ihre Finger an ihren Lippen.
Die Schauspielstudierenden arbeiten eng, spielen auch Liebesszenen. Gleichzeitig leben sie ziemlich abgekapselt. Manchmal kommt man sich näher, verliebt sich – auch Lucia Kotikova. Das mache es schwierig, Studium – sowie später Arbeit – und Privates miteinander zu vereinbaren, sagt sie.
Der ganze Jahrgang von Kotikova, darunter auch ihre damalige Freundin, nahm an einem Bewegungswettbewerb zu clownesker Körperperformance teil. Für die Freundin war dieses Projekt wichtig, sagt Kotikova: «Das war voll ihr Ding. Mir war es egal.»
Vorhang auf.
Jurymitglied tritt auf: Für aussergewöhnliche körperliche Begabungen überreichen wir den Preis an… (Spannungsvolle Pause) … Lucia Katikova! (Jurymitglied spricht Name falsch aus)
K. denkt: Fuck!
Ihre Mutter im Publikum zu Tränen gerührt, ihr Jahrgang klatscht und K. hat einfach nur Angst, dass das zwischen ihr und ihrer Freundin stehen würde.
Vorhang zu.
Vor allem gegen Ende des Studiums werden Studierende laut Kotikova oft etwa bei Castings zu Konkurrierenden gemacht. Man werde in diese Situation gesteckt und auf sich alleine zurückgeworfen.

Manchmal könne man sich für die Person, die eine Rolle oder ein Engagement kriege, freuen. Manchmal müsse man aber einfach durchatmen und das eigene Zentrum wiederfinden. Damit Freundschaften oder Liebesbeziehungen weiterbestehen können, brauche es Geduld und Sensibilität. Man merkt, dass sich Kotikova viele Gedanken macht. Über die Gefühle der anderen, über die eigenen.
Akt III – Fehlende Vorbilder
Im russischsprachigen Raum kennt Kotikova keine einzige Schauspielerin, die sich geoutet hat. Man vermute es bei manchen, aber von niemand wisse man es, sagt sie. «Es ist übertrieben tabu.» Die Haltung von Bevölkerung, Regierung und Kirche gegenüber lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans, inter, nonbinären und queeren Personen ist in russischsprachigen Räumen bis heute sehr konservativ. «Angenommen, jemand, den oder die ich cool fand, hätte sich in meiner Kindheit geoutet», sagt Kotikova, «dann hätte ich vielleicht gecheckt, dass es nichts Schlimmes ist, als Frau Frauen zu lieben.»

Vor einem Jahr, als Kotikova an der Schauspielschule war, outeten sich plötzlich viele Schauspielschaffende aus dem deutschsprachigen Raum aufs Mal – insgesamt 185. Kotikova war Teil davon. Das initiierende Trio nannte das Manifest #actout. «Act» steht für Schauspiel, «out» für das Sichtbarmachen von bisher Geheimgehaltenem, und zusammengesetzt heisst es «ausleben».
Mit dem Manifest kämpfen sie um die Akzeptanz jeder sexuellen Orientierung und jeder Geschlechtsidentität – sowohl am Set, im Film als auch hinter und auf der Bühne. Lesbische, schwule, trans, inter, queere oder nonbinäre Personen sollten öffentlich zu ihrer Identität stehen können, ohne berufliche Konsequenzen befürchten zu müssen.
Einer Schauspielerin war nach ihrem Coming-out von einer Regisseurin abgesprochen worden, eine Mutter darstellen zu können – weil sie Frauen liebe. Solcher Diskriminierung halten die Initiantinnen und Initianten entgegen: «Wir müssen nicht sein, was wir spielen. Wir spielen, als wären wir es – das ist unser Beruf.»
Salva Leutenegger, die Geschäftsleiterin von Szene Schweiz – der Berufsverband für darstellende Künste -, zeigt sich auf telefonische Anfrage empört, dass Schauspielschaffende aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Transidentität beruflich diskriminiert werden: «Das ist Machtmissbrauch und muss aufhören.»
Kotikova hatte zuerst Angst, dass Menschen aus ihrem Umfeld das Manifest sehen würden, die davon nichts wussten. Auf einmal merkte sie:
«Doch, ich muss das machen. Für mich. Und für all jene, die sich noch falsch fühlen – so wie ich es lange tat.»
Das Manifest erschien im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Innerhalb weniger Stunden war es in ganz Deutschland ausverkauft. Deshalb gab es eine Sonderauflage. In der Schweiz hingegen wurde kaum darüber berichtet. Das Magazin hat Lucia Kotikova nach Bern mitgenommen:
«Ich lese rein, falls ich vergesse, wo ich stehe.»

Viele bekannte Gesichter haben #actout unterschrieben. Zu ihnen gehört der Schauspieler Stefan Kurt, gebürtiger Berner, 62 Jahre alt. Privat outete er sich mit 20 Jahren. Den Militärdienst in der Schweiz trat er nicht an. Er bekam in sein Dienstbüchlein einen decodierten Stempel, der «sexuell abnorm» bedeutete und ihn als dienstuntauglich einstufte. «Das war heftig», sagt Kurt. In Deutschland lebte und arbeitete er, als Homosexualität noch unter Strafe stand. Erst 1994 wurde dieser Paragraph abgeschafft.


In der Branche habe er sich ebenfalls früh geoutet. Doch einige Castingleute rieten ihm davon ab, seine gleichgeschlechtliche Liebe etwa bei einem Interview zu erwähnen. Ihre Begründung: «Es könnte dir schaden.» Als Kurt noch jünger war, hörte er auf sie. In den letzten Jahren ignorierte er sie zunehmend.
Offiziell outete er sich öffentlich erstmals mit #actout im Alter von 61 Jahren. «Für mich war es der richtige Zeitpunkt.»

Die Gruppenaktion umgehe, was den Leuten oft bei einem Outing vorgeworfen werde, sagt Kurt: Die Aktion wirke nicht so, als wolle man die eigene sexuelle Orientierung anderen auf die Nase binden. «Aber der Hauptgrund war für mich Solidarität mit den Leuten, die sich bisher für die Rechte und Akzeptanz von Schwulen und Lesben eingesetzt haben.»
Akt IV – In der Blase
Die Ensemble-Mitglieder arbeiten zusammen, viele sind untereinander befreundet. «Wir leben total in einer Blase», sagt Lucia Kotikova. Sie ist leicht abgelenkt. Eis klackert an Schüttelbecher, hinter der Bar des Theaters hat unterdessen die Cocktailstunde begonnen. «Ich kenne vielleicht zehn Personen in Bern, die nicht zum Theater gehören. Zehn? Wohl eher acht. Oke, ansonsten kenne ich nur Schauspielstudierende. Und eine Person, die ich über jemanden vom Theater kennengelernt habe.» Während sie runterzählt, wirkt sie selbst überrascht, wie wenige es sind.
Fast alle Ensemble-Mitglieder sind diese Saison neu in Bern gestartet. «Viele von den Neuen fühlten sich erstmal verloren in der Stadt.» Deshalb wachse man wie zu einer Familie zusammen. «Aber nicht nur Happy Family. Sondern so, dass man sich traut, Sachen zu klären. Das ist gut, aber auch anstrengend.»

An manchen Tagen seien die Proben dermassen intensiv und kräftezehrend, dass sie nur noch weinen wolle. Da denkt sie: «Ich kann nicht mehr, ich hasse euch alle bis in den Abgrund.» Und am nächsten Tag: «Ich hab euch so gern, ihr seid alle so toll.» Sie braucht Streit genauso wie Harmonie. Nur durch den Kontrast merkt sie, dass etwas schlecht oder gut ist.
Bei einer Theaterprobe in den Vidmarhallen zeigt sich, dass die Schauspielenden auch mal forsch miteinander umgehen können. Zwei Schauspieler proben ihren Einsatz. Die Regisseurin kann sich ab der Szene kaum halten vor Lachen. Sie unterbrechen die Szene, überlegen laut, wie man es anders machen könnte, wiederholen, unterbrechen, wiederholen. Kotikova sitzt währenddessen müde auf einer Treppe und wartet auf ihren Einsatz. «In dieser Zeit hätte ich drei Kinder bekommen können», sagt sie mitten in einer Szene, etwas abgedreht von den anderen. Als sie dann ihre Zeilen vorträgt, sagt ein Kollege ironisch: «Etwas leiser wäre besser.» Dazwischen blödelt das Ensemble aber auch herum, lehnt sich aneinander und lacht. Wie Geschwister.
Kotikova erinnert sich an einen Konflikt bei einer anderen Probe.
Vorhang auf.
Schauspielende stehen verteilt auf der Bühne. Kotikova liest Text vor mit musikalischer Begleitung der anderen.
Gastmusiker unterbricht sie: Komm, wir probierens mal anders.
K: So habe ich es nicht gemeint. Das funktioniert nicht.
G: Lass es uns probieren.
K. wirft ihm einen bösen Blick zu.
Regisseurin: Hey, bitte, bitte.
Vorhang zu.
Daraufhin habe sie sich vor allen entschuldigt. Manchmal koste sie das Überwindung. Doch danach könne etwas Krasses passieren: «Bei einer aufrichtigen Entschuldigung ist die Versöhnung etwas Besonderes.»
Arbeit und Privates vermischt sich oft. Momente, in denen sie nicht erreichbar ist, schätzt sie:
«Zum Beispiel wenn ich zu Hause auf dem Klo sitze, heisst das für andere: Sie ist auf dem Klo, sie kann nicht.»
Das arte dann aus, weil sie eine halbe Stunde auf der Toilette verweile. Erzählt sie etwas Witziges, lacht sie. Aber nur kurz – um schnell weiter zu erzählen. Die Bühne ist ihr Zeitraum, wo sie als Privatperson nicht erreichbar ist. Davor befreit sie ihren Kopf manchmal bei der Maskenbildnerin, wie in diesem Video zu hören und sehen ist:
Die Grenzen der Darstellbarkeit auszuloten, sei herausfordernd:
«Bei meinem ersten Stück in Bern musste ich mich bis auf die Unterhose entblössen.»
Das fiel ihr schwer, woraufhin sie sich mit vielen vom Ensemble darüber austauschte. Einerseits müsse sie herausfinden: «Wo traue ich mich, aus meiner spielerischen Komfortzone auszubrechen?» Andererseits müsse sie immer wieder herausfinden, wo ihre moralischen und politischen Grenzen im Schauspiel liegen. «Ich habe Tabus, die ich in keinem Fall brechen würde.» Zum Beispiel Blackfacing kommt für sie nicht in Frage.
Akt V – Die Rolle steckt in dir
In der Schule habe sie viel Quatsch gemacht, Sprüche verteilt als auch eingesteckt, sagt Kotikova. Zu Hause dann spürte sie die Verletzung, die die Sprüche der anderen hinterliessen. In der Schule wurde sie oftmals auf die Quatschkopf-Rolle reduziert. «Dann nimmt dich niemand mehr ernst.» Weg von ihrer Geburtsstadt kann sie andere, neue Seiten von sich entdecken und ausleben.
Im Spiel kommt sie sich selber näher. Um sich mit einer Rolle zu identifizieren, sucht Kotikova nach einem Grundgefühl, das die Figur umtreibt. Als Beispiel nennt sie eine Figur, die abtreiben muss: «Ich weiss nicht, wie sich eine Abtreibung anfühlt, aber sie ist mit Verlust verbunden.» Mit diesem Gefühl kann sie dann arbeiten.
In einer Theaterrolle stecken geblieben, sei sie noch nie. «Das habe ich mir immer gewünscht. Aber das ist ein Trugschluss, finde ich.» Es sei umgekehrt:
«Alle diese Rollen stecken in mir.»
Die Szenen in kursiver Schrift stammen nicht aus einem Theaterstück, sondern aus Lucia Kotikovas Erinnerung.
Dieses Porträt entstand als Diplomarbeit zum Abschluss der zweijährigen Diplomausbildung an der Schweizer Journalistenschule MAZ.