Die Nosferatu-Spinnen lauern an der Decke

Grusel in den eigenen vier Wänden: Die Achtbeiner lassen viele Menschen schaudern und tauchen immer öfter in Berner Wohnungen auf. Wie gerät man dabei nicht in Panik?

Jedes ihrer acht Beine ist kräftig und üppig behaart, ihr Körper ebenso. Ihre Spannweite wirkt riesig. Das erste Mal begegne ich einer solchen Spinne in einem fremden Treppenhaus und nehme es locker.

Doch später am Abend in meinem Wohnzimmer schalte ich das Licht an – und erstarre vor Schreck: An der Decke klebt eine monströse Spinne. Eine Vogelspinne? Nein. Trotzdem: Meine Knie werden weich, und meine Hände zittern, als ich nach dem Glas greife, um sie damit einzufangen. Seit wann jagen mir Spinnen eine solche Furcht ein?

Wahrscheinlich seit in Berner Wohnungen die Nosferatu-Spinne auflauert, die bis zu fünf Zentimeter misst, wenn sie ihre Beine streckt. Sie reagiert empfindlich auf Frost und fühlt sich in Wohnungen am wohlsten. Nicht nur sie, auch die Winkelspinne mit ihren zwar etwas dünneren, aber längeren Beinen sucht im Herbst in den Hauswänden Schlupflöcher.

Im Reisegepäck in die Schweiz

Laut Spinnenexperte Christian Kropf vom Naturhistorischen Museum Bern haben sich heuer besonders viele dieser Achtbeiner eingenistet: «Dieses Jahr bekamen wir zu beiden Spinnen auffällig viele Meldungen, jedoch nochmals deutlich mehr zur Nosferatu-Spinne.» In einer einzelnen Wohnung in der Stadt Bern seien gar Dutzende gemeldet worden: «Da hat ein Weibchen im Vorjahr einen Eikokon gelegt.» Kropf vermutet, dass die Nosferatu-Spinne zwar in ländlichen Gebieten auch auftaucht, jedoch nicht in derselben Dichte wie in Städten.

Ursprünglich lebte die Nosferatu-Spinne nur im Mittelmeerraum. Wegen der Klimaerwärmung ist es ihr laut dem Experten mittlerweile auch in der Schweiz warm genug. Hierher geschleppt worden sei sie wohl in Lastwagen und Reisegepäck entlang der Hauptverkehrsachsen. «Es ist möglich – allerdings noch nicht untersucht –, dass sie die heimische Winkelspinne verdrängt.»

Wer wie ich Feindin grosser Spinnen ist, sieht in dieser Machtbehauptung im ersten Moment vielleicht sogar einen Vorteil: Die Spannweite der Nosferatu ist zwar einige Zentimeter kleiner. Genauer betrachtet, ist sie aber aufdringlicher.

Während die Winkelspinne es gerne feucht mag und im Keller bleibt, solange sie genug Insekten fängt, kann die Nosferatu entlang der Hauswand bis zu mir in den vierten Stock kraxeln und mich dort ungebeten empfangen.

Sie hat winzige Augen. Ob sie mich beobachtet, innerlich auslacht, mich anspringt? Seit zehn Minuten stehe ich wie gelähmt da, das Glas in der Hand, und sammle Mut. Dabei ist meine Angst unbegründet – die Nosferatu-Spinne springe einen sicher nicht an, beruhigt Experte Kropf. Und: «Eine Spinne sieht zwar etwas, aber nicht sehr gut.» Sie orientiere sich an Vibrationen, egal wie zart sie seien.

Der Atem als Schutzschild

Lange bevor sie den Menschen sieht – oder er sie –, weiss sie, dass er im Raum steht. Die Schwingungen seines Atems halten sie in der Nacht von ihm fern. Meidet sie die Person, die schnarcht, umso mehr? Kropf lacht und sagt: «Das könnte sein, wurde aber bisher nicht untersucht.»

Jedenfalls entwarnt er: Nur in panischer Flucht läuft sie über des Menschen Körper. Sonst hat das nachtaktive Tier Besseres zu tun: Es paart sich, spinnt und jagt. Mücken, Motten und Trauerfliegen. 

Keine Blutsaugerin

Eine weitere Entwarnung: Die Nosferatu-Spinne saugt kein Blut, wie ihr Name, der sich auf einen Vampirfilm aus den 1920ern bezieht, suggeriert. Aber sie beisst, wenn sie sich bedroht fühlt. Sie gehört zu den wenigen Spinnen, deren Beisswerkzeug stark genug ist, um durch die menschliche Haut zu dringen. Das Gift dosiert sie jedoch sparsam: Ihr Stich schmerze nicht mehr als der einer Mücke, versichert Kropf.

Nach fünfzehn Minuten schaffe ich es: Mit meinem Glas steuere ich auf die Spinne zu. Da krabbelt sie die Wand hinunter und hinter ein Buch. Was nun? Erneute, kurze Schockstarre, bis der Jagdinstinkt in mir erwacht. Vorsichtig ziehe ich das Buch heraus. Dann handle ich schnell: Glas drüber, Karton drunter und – mit zittrigen Händen – raus mit ihr.

Noch leicht aufgekratzt gehe ich ins Bett. Da streift mich etwas am Bein. Oh, oh. Nein, nein. Ist wahrscheinlich nur die Pyjamahose. Hoffentlich.