20 Jahre Recht auf Abtreibung: Sie hat dafür gekämpft – jetzt fürchtet sie Rückschläge

Noch bevor es die Fristenregelung gab, setzte sich Christine Sieber aus Bern für die Selbstbestimmung der Frau ein. Und sie kämpft weiter dafür.

Christine Sieber deutet auf das Gebäude vis-à-vis dem alten Frauenspital in der Berner Länggasse und sagt: «Dort führten wir in den 90er-Jahren die Beratungsgespräche, bevor die Frauen dann allenfalls hier», nun zeigt sie auf das alte Frauenspital selbst, «die Schwangerschaft abbrechen liessen.» Im runden Erker sei damals operiert worden. Heute ist im ehemaligen Gebäude des Frauenspitals die Universität Bern einquartiert.

Die 63-Jährige wohnt in der Berner Lorraine und hat sich bei der Arbeit für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch eingesetzt – und das, noch bevor die Fristenregelung vor genau 20 Jahren in Kraft trat. 1992 hat sie begonnen, bei der Familienplanungsstelle des Frauenspitals zu arbeiten. Zuerst als Sekretärin, später als Beraterin.

Christine Sieber kannte die bedeutende Vorkämpferin des straffreien Schwangerschaftsabbruchs Anne-Marie Rey persönlich und arbeitete punktuell mit ihr zusammen. Rey, die 1937 auf die Welt kam und in Burgdorf aufwuchs, engagierte sich bereits Anfang der 1970er-Jahre hartnäckig für die Legalisierung der Abtreibung. Es war ihr Lebensthema, bis zu ihrem Tod 2016.

Liberaler Kanton

Unter bestimmten Voraussetzungen waren bereits vor der Fristenregelung Abtreibungen erlaubt. Im Kanton Bern etwa herrschte laut Sieber eine recht liberale Haltung. Massgebend war, dass sich die Frau in einer Notlage befand – physisch, psychisch oder sozial. Dies beurteilte aber nicht die Betroffene selbst, sondern eine Ärztin oder ein Arzt.

Auf der Familienplanungsstelle erhielten die Frauen kostenlos Beratungen. Während der Hunderten Beratungen, die Sieber durchführte, erfuhr sie, in welch unterschiedlichen Situationen Frauen eine solche Entscheidung treffen mussten.

Christine Sieber schildert einige dieser Situationen: Da gab es die Mutter, die kein drittes Kind wollte – weil sie befürchtete, den beiden ersten sonst kein gutes Leben bieten zu können. Da gab es die Frau, die einen Partner hatte – der aber nicht der Vater war. Oder Frauen, die sich zu jung fühlten – oder zu alt. Die eine Frau konnte es sich nicht vorstellen, ein Kind allein grosszuziehen – die andere schon. Jede entscheide anders.

Aus einem mache viele

Sie habe die Frauen unterstützt und dazu ermutigt, selber zu bestimmen, welche Lösung für sie «richtiger» sei, sagt Sieber. Richtiger, weil es immer Dafür und Dawider gebe.

Diese Unterstützung konnte so aussehen, dass ein riesiger Haufen Probleme, dem eine Frau gegenüberstand, in kleinere Häufchen aufgeteilt wurde. So blieben dann nur noch einzelne Fragen offen wie etwa: Wie viel Zeit bleibt mir für den Entscheid? Zudem galt es zu klären: Mit wem hat sie bereits gesprochen? Sieber sagt, dass damit niemand allein sein sollte.

Neues Gesetz, neue Frauenklinik

Erst vor 20 Jahren änderte sich der rechtliche Rahmen. «Das war ein grosses Ereignis, als damals im Juni die Schweizer Bevölkerung die Fristenregelung angenommen hat», ihre Stimme wird schneller. «Das war unglaublich.» Mit 72 Prozent.

Sieber war zu dieser Zeit am Kistenpacken, das Frauenspital zog weg von der Schanzeneckstrasse. Als das Gesetz noch am 1. Oktober desselben Jahres in Kraft trat, war die Beratungsstelle schon in der neuen Frauenklinik auf dem Insel-Gelände untergebracht.

Die Fristenregelung, die bis heute gilt, erlaubt einen selbstbestimmten Abbruch. Das Gutachten fällt – bis zur zwölften Schwangerschaftswoche – weg. In dieser Phase kann die Frau ihre Notlage selbst definieren.

Nach der zwölften Woche beurteilt weiterhin eine Ärztin die Situation. Das Gesetz sagt: Je weiter fortgeschritten die Schwangerschaft ist, desto schwerwiegender müssen die Gründe für einen Abbruch sein.

Wo genau sie am Tag der Annahme war, weiss Sieber nicht mehr. Die Frauenrechtlerin Anne-Marie Rey hingegen wüsste das von sich selbst sehr wahrscheinlich, meint Sieber.

Der Anne-Marie-Rey-Fonds

Sieber hat gemeinsam mit Rey gekämpft: «Sie war eine Frau, die ein unglaubliches Engagement an den Tag legte.» Vor allem im Zusammenhang mit einem Hilfsfonds habe sie eng mit ihr gearbeitet, sagt Sieber. «Da organisierte Anne-Marie Geld, viel Geld, um diesen Fonds für Frauen zu eröffnen, die in finanzieller Notlage sind und sich keinen Schwangerschaftsabbruch leisten können.»

Denn ein Abbruch wird in der Schweiz zwar von der Grundversicherung übernommen, jedoch abzüglich Franchise und Selbstbehalt. Bei einer Franchise von 2500 Franken können sich das manche Frauen nicht leisten. Oder einige junge Frauen können das Risiko nicht eingehen, über die Krankenkasse abzurechnen. Weil niemand erfahren darf, dass sie einen Abbruch machen. Insbesondere die Eltern nicht.

Nach Anne-Marie Reys Tod wurde der Fonds nach ihr benannt. Seither konnte jedoch niemand so viel Energie in das Fundraising stecken wie Rey, wie Sieber sagt. Deshalb sei er am Serbeln.

Rückschritten vorbeugen

Viele Bewegungen, die gegen das Recht der Wahlfreiheit bei Schwangerschaftsabbrüchen seien, würden von Männern angeführt, sagt Sieber. Sie verweist auf Kundgebungen, an denen gegen Abtreibungen demonstriert wird: «Da marschieren in den vordersten Reihen fast nur Männer.» Dabei gehe es ja um den Körper der Frau.

«Wenn man nichts macht, gibt es Rückschritte.» Dies habe die Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» von 2014 gezeigt. Doch sie wurde haushoch abgelehnt. «Wenn die Abtreibung nicht weiterhin von der Grundversicherung übernommen würde…», Christine Siebers Stimme wird am Ende des Satzes lauter, sie zieht die Stirn hoch, schüttelt den Kopf und fährt leise fort: «Nein, das mag ich mir gar nicht vorstellen.» Und sagt dann doch: «Die Frau bliebe auf den Kosten sitzen.» Und der Vater des Kindes – vielleicht zahle er, vielleicht aber auch nicht. Das sei ja nicht geregelt.

In den Vereinigten Staaten gibt es seit vergangenem Sommer kein landesweites Recht auf Abtreibung mehr. In Ungarn sollen sich die Frauen den dortigen Medien zufolge vor einem Schwangerschaftsabbruch die Herztöne des Embryos anhören müssen und werden damit moralisch unter Druck gesetzt. Und in Italien befürchten manche ebenfalls eine Verschärfung des Abtreibungsrechts wegen der neu gewählten, postfaschistischen Regierungschefin Giorgia Meloni.

«Dieser Backlash macht mir Sorgen», gesteht Sieber. Denn auch in der Schweiz wurden letzten Winter zwei Initiativen eingereicht, die das Abtreibungsrecht verschärfen würden. Die sogenannte «Einmal darüber schlafen»-Initiative verlangt etwa, dass mindestens 24 Stunden zwischen einem Beratungsgespräch und dem Schwangerschaftsabbruch vergehen müssten. «Das wäre ein Eingriff in die Selbstbestimmung der Frau», sagt Sieber erzürnt.

Im Strafgesetz verankert

Die Fristenregelung ist bis heute im Strafgesetz verankert. «Auch wenn sich die Frauen in der legalen Zeitspanne befinden, fühlt es sich für viele an, als würden sie etwas Strafbares machen», sagt Sieber.

Die Frau muss für eine Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche ein schriftliches Gesuch bei ihrem Arzt einreichen. Ab der dreizehnten Woche ist dieser dann dazu verpflichtet, ein beratendes Gespräch mit ihr zu führen und zu bestätigen, dass sich die schwangere Frau in einer Notlage befindet. In einer späten Schwangerschaftswoche, zum Beispiel der 24., liegt laut Sieber eine solche Notlage etwa vor, wenn die Frau suizidgefährdet oder der Fötus fehlgebildet ist.

Werden die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten, müssen sowohl die betroffene Frau als auch der Arzt oder die Ärztin mit einer Freiheits- oder Geldstrafe rechnen.

Das sei für die Frauen stigmatisierend und wie ein Korsett, findet Sieber. Deshalb fordert sie gemeinsam mit ihrem heutigen Arbeitgeber, Sexuelle Gesundheit Schweiz, in einer Petition: «Meine Gesundheit – Meine Wahl». Damit soll die Fristenregelung aus dem Strafgesetzbuch gestrichen und stattdessen etwa in einem Gesetz zur Gesundheit verankert werden. Ein Nebeneffekt dieser Petition wäre, dass sich die Frau mit einer Abtreibung in keinem Fall mehr strafbar machen würde.

Siebers Freundinnen, entfernte Bekannte oder Teammitglieder bei der Arbeit finden alle, die Fristenregelung habe «nichts» im Strafgesetzbuch verloren. «Aber natürlich gibt es Gegenwind zur Petition», hält Sieber fest. Sexuelle Gesundheit Schweiz mache viel Medienarbeit dazu. Da kämen Reaktionen wie: «Sie soll doch vorher schauen.» Es seien dieselben Kommentare wie damals in den 90ern.

Sieber verweist darauf, dass es für eine Schwangerschaft ja zwei brauche. Und trotzdem richte sich der Fokus kaum auf die Männer. Dass man das so einseitig den Frauen anlastet, findet sie «extrem ungerecht». Sie pustet das «extrem» aus.

Heute berät Sieber beruflich nicht mehr Frauen während einer Schwangerschaft. Stattdessen ist sie für Projekte zu reproduktiver Gesundheit zuständig. Doch sie ist nach wie vor überzeugt: «Frauen sind Expertinnen ihres eigenen Lebens.»