Ab Januar sollen Asylsuchende im Gurnigelbad wohnen. Dort werde die Integration schwierig, kritisieren Fachleute. Der Kanton macht dennoch vorwärts.
Marschiert man in Riggisberg los, geht es zuerst den Hügel hoch bis nach Plötsch. Dann den Hügel hinunter bis nach Rüti. Eine kurze Verschnaufpause? Vielleicht besser. Denn sogleich folgt der zweite Aufstieg.
Zuerst führt noch ein schmales Brückchen über einen Bach, dann ein schmaler Pfad steil den Waldhügel hinauf. Matsch und nasses Laub machen den Weg rutschig. Nach gut zwei Stunden Wanderung erwartet einen beim Gurnigelbad auf 1155 Metern über Meer eine weite Aussicht. Und Ruhe. Menschenleere Ruhe.
Letztes Postauto am Nachmittag
Dies wäre der Nachhauseweg für die Asylsuchenden, die ab Januar im ehemaligen Kurhotel Gurnigelbad in der Gemeinde Riggisberg Unterschlupf finden werden. Und diese Erklimmung wäre quasi unumgänglich, wenn man um 15:30 Uhr das letzte Postauto aus besiedeltem Gebiet hoch zur Unterkunft verpasst hat und kein Auto besitzt. Bis zu 220 Personen hätten laut dem Kanton im Gurnigelbad Platz. Erwartet werden nach aktuellem Stand grösstenteils Menschen aus Afghanistan, Syrien und der Türkei, wobei sich das jederzeit ändern kann.
Laut dem Kanton würden hier voraussichtlich Personen untergebracht, die bereits einen rechtskräftigen Entscheid haben, dass sie bleiben dürfen, oder ein erweitertes Asylverfahren durchlaufen. Hinzu können aber auch Personen ohne Asylentscheid kommen: Da die Bundesasylzentren überlastet sind, weist der Bund seit Anfang November den Kantonen zusätzlich Personen in einer solchen Situation zu. Betrieben wird die Kollektivunterkunft im Gantrischgebiet durch das Schweizerische Rote Kreuz (SRK).
Momentan sind die Innenräume im Gurnigelbad laut dem Riggisberger Gemeindepräsidenten Michael Bürki (SVP) noch leer. «Da werden gegenwärtig Betten organisiert, sanitäre Anlagen und Einzelkochherde eingebaut.» Geplant sei, dass das Gebäude für vier bis fünf Jahre als Kollektivunterkunft zur Verfügung gestellt werde. Danach soll es wieder zu einem Hotel werden, sagt Bürki.
Daniel Winkler ist Pfarrer in Riggisberg und hat vor acht Jahren begonnen, Asylsuchende zu betreuen. Damals gab es in Riggisberg vorübergehend eine Asylunterkunft. Seither engagiert sich Winkler für Geflüchtete in der Region. Er geht davon aus, dass die Mehrheit der im Gurnigelbad untergebrachten Menschen in der Schweiz bleiben werde. Und er findet: «Es ist ein No-go, Asylsuchende ohne Auto in dieser totalen Abgeschiedenheit unterzubringen – oder höchstens als Ultima Ratio.»
Kein Rückzug
Doch bringt die Unterkunft auf dem Hügel nicht auch Vorteile mit sich wie etwa die Möglichkeit, sich zurückzuziehen? Winkler entgegnet: «Ruhe hat man mit 219 anderen Personen auf so engem Raum ohnehin nicht.» Klar, man könne spazieren gehen. Doch aus seiner Sicht wiegt diese Spaziermöglichkeit die Nachteile nicht auf.
Viel wichtiger sei für die Menschen, dass sie zwischendurch von der Unterkunft wegkommen könnten, sagt Winkler. Ein Café als Begegnungsort mit der restlichen Dorfbevölkerung wäre ideal. Allerdings sei das an diesem «komplett abgelegenen Ort» nicht möglich.
«Die jungen Leute sollten zum Beispiel Fussball spielen können, um ihre Energie rauszulassen», sagt Winkler. In Rüti, der nächstgelegenen Ortschaft, gibt es zwar einen Sportplatz. «Doch jetzt im Winter müssten sie bis nach Riggisberg fahren, um eine Turnhalle benutzen zu können.» Und da komme wieder die eingeschränkte Mobilität in die Quere.
Martina Blaser, die beim SRK Kanton Bern die Abteilung Migration leitet, begrüsst zwar Liegenschaften, die einigermassen angenehm und oberirdisch seien. Jedoch sieht sie ähnliche Nachteile wie Winkler: «Das Gurnigelbad ist ausserhalb des Dorfes und mit öffentlichem Verkehr schlecht erschlossen», hält sie fest. Momentan fährt viermal pro Tag ein Postauto zum Gurnigelbad hoch und wieder hinunter. Wie viele zusätzliche Fahrdienste künftig für die Geflüchteten angeboten würden, sei momentan noch offen, sagt Blaser.
Auch der Kanton gesteht die Nachteile des Standortes ein: «Schule und Einkaufsmöglichkeiten sind weit entfernt», sagt Gundekar Giebel, Sprecher der zuständigen Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern (GSI). Beides liegt in Riggisberg. «Wir versuchen deshalb Personen unterzubringen, bei denen diese Nachteile weniger ins Gewicht fallen, also eher keine Familien mit schulpflichtigen Kindern.»
Wenn die Nachteile so gross sind – weshalb wird dann überhaupt eine Kollektivunterkunft im abgelegenen Gurnigelbad eröffnet? «Wir nehmen jede Unterkunft, die wir bekommen», antwortet Giebel. Da die Bundesasylzentren voll sind, weist der Bund den Kantonen vorübergehend deutlich mehr Personen zu als sonst.
Eine Allianz rot-grüner Berner Stadträtinnen und Stadträte sieht allerdings durchaus eine Möglichkeit, die Asylsuchenden zentraler unterzubringen. In einer Motion fordern sie, dass das Containerdorf im Viererfeld dafür genutzt werden soll. Dort gebe es Platz für 1000 Personen. Nach aktuellsten Zahlen sind jedoch nur 168 Plätze besetzt.
Ende Oktober hiess es vonseiten des Kantons dazu noch, dass eine «gemischte Unterbringung im Sinne der Belegung durch zwei Gruppen in Abklärung sei». Nun sagt Pressesprecher Giebel jedoch: «Das Viererfeld ist als temporäre Unterkunft für ukrainische Personen konzipiert, die relativ rasch in Wohnungen umziehen. Die gemischte Nutzung mit anderen Personengruppen, für die andere Regeln gelten, ist im Moment nicht geplant.»
Ukrainerinnen sind oft mobiler
Pfarrer Winkler hingegen fände es sinnvoller, im Gurnigelbad ukrainische Geflüchtete unterzubringen, da diese teilweise ein Auto besässen. Und Martina Blaser vom SRK Kanton Bern verweist darauf, dass für Ukrainerinnen und Ukrainer, deren Status rückkehrorientiert sei, die Integration nicht im Fokus stehe: «Für andere Geflüchtete mit Aufenthalts- oder Bleiberecht hingegen schon.»
Wenn man ein Postauto erwischt und nach Riggisberg fährt, gibt es dort laut Winkler eine grössere Bereitschaft, sich für Asylsuchende einzusetzen und sie zu begleiten.
Erwischt man jedoch kein Postauto und geht vom Gurnigelbad zu Fuss los, landet man als Erstes in der nächstgelegenen Ortschaft Rüti. Und da geht Winkler davon aus, dass ukrainische Geflüchtete wohl eher Unterstützung von den Bewohnerinnen und Bewohnern von Rüti bekämen als andere Asylsuchende. Denn er habe gehört, in Rüti seien die Leute über die Pläne im Gurnigelbad irritiert, sagt Winkler: «Auf dem Land sind die Ressentiments gegenüber nicht europäischen Leuten stärker.»
Je weniger sie mit Drittstaatleuten in Berührung kämen, desto grösser seien die Vorbehalte. «Begegnungen wären daher gut, um Vorurteile abzubauen», sagt Winkler. Zwischen Rüti und dem Gurnigelbad liegen jedoch rund 300 Höhenmeter. Da treffe man sich kaum einfach so, sagt Winkler. Ergänzt dann jedoch: «Aber vielleicht wundert man sich plötzlich, und es entsteht etwas.»