Sie ist das Sprachrohr für Opfer und Täter

Vor Gericht übersetzt die Dolmetscherin Maria Neversil aus Bern manchmal üble Dinge. Nach einem heftigen Prozesstag hilft nur noch: alles aus dem Körper schütteln.

Schwarze Wände umgeben sie in ihrem Büro an der Belpstrasse in Bern. Düstere Worte übersetzt sie im Gerichtssaal. Der Berufsalltag der Dolmetscherin Maria Neversil ist geprägt von Themen wie Drogenhandel, Raub, häuslicher Gewalt oder Vergewaltigung. Bei den Polizei- und Justizbehörden dolmetscht sie sowohl den Täter, die Täterin als auch das Opfer. Alles aus der Ich-Perspektive. Was tut das mit ihr?

Sie erinnert sich an ihren ersten Pädophilie-Fall zurück: «Als ich nach der polizeilichen Einvernahme aus dem Gebäude trat, schüttelte es mich.» Auch jetzt schüttelt sie Oberkörper und Hände. «Es musste alles raus.» Zu Hause habe sie sich direkt unter die Dusche gestellt: «Ich fühlte mich wie besudelt.» Sie sei sehr nahe bei diesem Mann gesessen. Ihr schaudert noch heute.

Für dieses Porträt darf sie aufgrund ihrer Geheimhaltungspflicht keine Informationen wiedergeben, die Rückschlüsse auf ein Verfahren ermöglichen – selbst bei solchen nicht, die publik sind. Aber sie zeigt, wie es möglich ist, mit einem belastenden Berufsalltag zurechtzukommen und eine Aufgabe wahrzunehmen, die sich viele nicht zutrauen würden. 

International aufgewachsen

Die diplomierte Konferenzdolmetscherin ist kosmopolitisch aufgewachsen: Ihr Vater, ein Tscheche, und ihre Mutter, eine Spanierin, lernten sich in Prag kennen. Als die Stadt 1968 von den Truppen des Warschauer Pakts besetzt wurde, flüchteten ihre Eltern in die Schweiz. Unterwegs in Chur kam Maria auf die Welt. Die Eltern haben ihr und ihrem Bruder, Michael, möglichst internationale Namen gegeben. Bei ihrer Geburt wussten sie noch nicht, in welchem Sprachgebiet sie sich niederlassen würden. Letztlich fiel die Wahl auf Bern.

Studiert hat Maria Neversil in Zürich, London, Genf und Prag. Danach lebte sie einige Zeit in Brüssel. Die Arbeitssprachen der heute 53-Jährigen sind Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Tschechisch und Slowakisch.

Gemäss ihrer Erfahrung leugnen die Angeklagten ihre Tat oftmals oder gestehen erst am Schluss des Verfahrens. Die Opfer hingegen erzählen ausführlich. Einmal dolmetschte sie bei einem Folterprozess: «Wenn da das Opfer detailliert beschreibt, was ihm angetan wurde, und das Hemd hochzieht, um die Narben zu zeigen – das geht unter die Haut.» Gelassen zu bleiben, koste Kraft.

Neutral und nah

Sie hat am Gericht oder bei polizeilichen Einvernahmen zwar eine neutrale Funktion. Trotzdem sitzt sie nahe bei der Person, die sie dolmetscht. Sowohl bei der Täterin als auch beim Opfer. Zur räumlichen kommt die emotionale Nähe: «Ich höre das Gesagte», sie deutet mit dem Zeigefinger aufs Ohr. «Dann verarbeite ich es.» Sie fasst die Finger ihrer rechten Hand zu einem Punkt zusammen. «Dadurch habe ich die Worte des Täters und die des Opfers im Kopf», sie hält die Finger an den Kopf, «bevor ich sie wiedergebe.» Sie führt die Hand zum Mund und wieder weg. «Und das alles aus der Ich-Perspektive.» Häufig seien die Schilderungen des Opfers schlimmer als die des Täters. «Man durchlebt, was das Opfer erlebt hat.»

Mittraumatisiert fühlte sie sich noch nie. Aber belastend könne es sein. Sie arbeitet mit Atemtechnik und Meditation. Bei der zweitägigen Ausbildung zur Gerichtsdolmetscherin würden Sport, Entspannung und Atemtechniken empfohlen. Nach dem Dolmetschen brauche sie frische Luft. Auch jetzt atmet sie tief und laut aus: «Es muss einfach alles raus.»

Die Schnellbleiche fürs Gerichtsdolmetschen
Am zweitägigen Zulassungskurs fürs Dolmetschen bei den kantonalen Justiz- und Strafverfolgungsbehörden doziert unter anderem Maria Neversil. Es gibt eine Einführung ins Straf- und Zivilrecht sowie praktische Übungen. Wer die mündliche und schriftliche Prüfung besteht, kommt ins Dolmetschverzeichnis und wird bei Bedarf aufgeboten. Für Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch sei die Liste aktuell so lang, dass ein vorübergehender Zulassungsstopp eingeführt worden sei. Manche Sprachen hingegen sind so selten, dass man Leute etwa aus Deutschland einreisen lassen muss. (sog)

Doch was, wenn man kapitulieren muss, wie dies einem Dolmetscher letzten Dezember am Obergericht in Bern passierte? Bei einem Prozess zu versuchtem Mord eines Vaters an seiner trans Tochter übersetzte er aus dem Kurdischen ins Deutsche. Nach einem Redeschwall des Vaters stellte er trocken fest, er habe nicht alles mitbekommen. Ob der Dolmetscher wegen des Sprechtempos oder aus Selbstschutz vor der grausamen Worte kapitulierte, erschliesst sich nicht.

Angesprochen auf diese Nachzeichnung, schaut Maria Neversil betroffen: «Ich weiss nicht, ob Inhalt oder Tempo der Grund dafür war», sagt sie. «Aber das geht nicht.» Sowohl Opfer als auch Täterinnen und Täter haben das Recht, in ihrer Muttersprache angehört zu werden. «Als Dolmetscherin kann ich die Verdolmetschung nicht verweigern.» Sie müsse alle Aussagen übersetzen.

Doch sie kann verstehen, dass Situationen belastend sein können: Viele Gerichtsdolmetscherinnen und -dolmetscher haben keine langjährige Ausbildung durchlaufen, sondern nur den zweitägigen Kurs absolviert. Dort werde die emotionale Belastung zwar angesprochen. Allerdings sei die Theorie das eine, ein schwieriger Fall im Gerichtssaal etwas ganz anderes.

Bei einem Einsatz als Dolmetscherin lasse sie ihr privates Ich zu Hause. Persönliche Gefühle dürften die Arbeit nicht beeinträchtigen – auch wenn einem die Person, die man dolmetsche, zutiefst unsympathisch sei.

Keine Beschönigung

Wer beim Dolmetschen negativ auffällt, bei der oder dem kann laut der Generalstaatsanwaltschaft etwa die persönliche oder die fachliche Voraussetzung überprüft werden. In nächster Konsequenz werde man aus dem Verzeichnis gestrichen. Wer vor Gericht wissentlich falsch dolmetscht, muss laut Strafgesetz je nachdem mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen.

Ergo: nichts beschönigen, nichts weglassen. Bei falschen Übersetzungen könne es im schlimmsten Fall zu einem falschen Urteil kommen, sagt Maria Neversil. Als Dolmetscherin sei sie das Sprachrohr für beide Seiten.

Folglich muss sie auch heftiges Vokabular wortwörtlich übersetzen. Als Beispiele nennt sie «Arschloch» oder «Scheissdreck». Sie lacht und zuckt mit den Schultern. Beim ersten Mal sei es für alle schwierig. «Gerade bei ausgefallenen Sexualpraktiken hat man nicht sofort das passende Wort bereit.» Da dürfe man nachfragen: «Wir sind kein Wörterbuch.»

Vorbereitung würde helfen. Doch in vielen Fällen sei das nicht möglich. Das Thema steht zwar auf der Vorladung. Doch die Hintergründe, Personen- und Ortsnamen erfahre man meist erst während des Einsatzes. Auch finanziell wird eine hohe Flexibilität erwartet: Wird etwa eine Urteilsverkündung kurzfristig abgesagt, bleibt das Honorar aus. 

Das Böse und das Schöne

Mit jedem neuen Auftrag kommt ein neues Schicksal dazu. «Die aktuellen Fälle verdrängen die vorherigen», sagt Neversil. Daher sei für sie die geballte Ladung an Bösartigkeit fast belastender als die Einzelschicksale. Oft gehe es um Korruption, Gier oder Neid. «Mit der Zeit verliert man den Glauben an das Gute im Menschen», sagt sie und seufzt.

Stumpft es ab? «Nein.» Aber sie habe gelernt, eine gewisse Distanz einzunehmen. Sie könne an alldem nichts ändern. Stattdessen versuche sie im Kleinen etwas zu bewirken und ihre drei Söhne zu rücksichtsvollen und mitfühlenden Menschen heranzuziehen.

Zwischendurch dolmetscht sie bei Eheschliessungen auf dem Zivilstandsamt. Dort erlebe sie die Kehrseite: Freudentränen, Rührung, Romantik. Da hoffe sie stets, dass man sich nicht vor Zivilgericht wiedersehe. Beim Scheidungsverfahren würden sich manche Eheleute regelrecht zerfleischen. Einen guten Ausgleich bieten ihr auch Aufträge als Dolmetscherin etwa bei der EU, Kongressen oder Filmfestspielen.

Ihre Oase

Obwohl Maria Neversil oft in die Abgründe des Menschseins sieht, wirkt sie ausgeglichen. Und in ihrem Büro gibt es nebst den schwarzen Wänden auch Farbtupfer. Es ist ausgestattet wie eine kleine Wohnung. «Seit unser erstes Kind vor 19 Jahren auf die Welt gekommen ist, hatte ich keinen Raum mehr für mich allein.»

Auf dem langen Fenstersims reihen sich verschiedene Pflanzen aneinander. Davor steht ein Schubladenregal aus der Apotheke ihrer Mutter, die Schubladen sind noch mit Originalschildern beschriftet. An der Wand hängen Poster, und in einer Ecke lädt ein brauner Couchsessel zum Ausruhen und tiefen Durchatmen ein. Es ist offensichtlich ein Raum, in dem böse Gedanken keinen Platz haben sollen. Es ist ihre Oase.