Ältere Leute zögern den Eintritt in ein Altersheim heute so weit hinaus wie möglich. Trotzdem baut die Branche im Kanton Bern ihre Kapazitäten aus. Was geht da vor?
Vom Bahnhof Münsingen führt eine Unterführung direkt zum neuen Alterszentrum der Senevita-Gruppe in der Dorfmatt. Am Eröffnungstag, der kürzlich stattgefunden hat, schlendern Interessierte durch die breiten Gänge des sechsstöckigen Gebäudes. Sie strecken ihre Köpfe neugierig in die noch unbewohnten Zimmer und bestaunen das Farbkonzept.
«Die erdigen Töne haben eine beruhigende Wirkung auf die Bewohnerinnen und Bewohner», sagt die Geschäftsführerin Sarah Weishaupt. Sie führt durch das durchdesignte Gebäude. Stimmengewirr und warm gedimmtes Licht beginnen einem die Sinne zu vernebeln.
Viele Besucherinnen und Besucher kommen aus der nahen Umgebung. Einige wenige reisen aber auch von Zürich an, da ihre Angehörigen in der Gegend von Münsingen wohnen. Würden sie hier einziehen, wären sie in ihrer Nähe.
Das neue Alterszentrum Senevita Dorfmatt ist auf betreutes Wohnen ausgerichtet: Nebst 50 Pflegebetten hat es 80 Wohnungen im Angebot. Darin können die Bewohnerinnen und Bewohner selber kochen und gleichwohl am Gemeinschaftsprogramm teilnehmen: Angedacht ist etwa, gemeinsam Pflanzen zu setzen, zu basteln oder zu singen. Ausserdem besteht die Möglichkeit, von der internen Spitex betreut zu werden. In den Wohnungen sind Notfallknöpfe auf Knöchelhöhe platziert. Fällt jemand hin, sind sie gut erreichbar.
Weishaupt beschreibt die Idee hinter dem Ganzen: Die Leute leben hier, im Dorfkern von Münsingen, und können sich im und ums Altersheim herum ein soziales Umfeld aufbauen. Denn die Senevita strebt mit dem öffentlichen Restaurant, einem Café und Drittmietern wie etwa einem Coiffeursalon eine Durchmischung mit der lokalen Bevölkerung an. Sollten die Bewohnerinnen und Bewohner aus der betreuten Wohnung in ein Pflegezimmer im selben Gebäude wechseln müssen, sind sie nicht mehr mit einer zu grossen Veränderung konfrontiert.
Am Eröffnungstag sind von den 80 Wohnungen allerdings erst 2 verkauft, 12 vermietet und einige reserviert. Von den 50 Betten auf der Pflegestation ist eines vergeben.
Nicht nur in Münsingen entsteht Wohnraum für Seniorinnen und Senioren. In der Elfenau bei Bern eröffnete die Tilia-Stiftung vor einigen Tagen ein saniertes Alterszentrum. In Langenthal wird ein abgerissenes neu gebaut und voraussichtlich nächstes Jahr eröffnet. Damit verdreifacht sich die Anzahl Pflegebetten dieses Altersheims beinahe. In Aarwangen wurde in einem Seniorenheim die Kapazität mit einem Erweiterungsbau fast verdoppelt.
Insgesamt gibt es im Kanton in Pflegeheimen 14’679 Plätze. Die Auslastung der Pflegeheime im Kanton Bern liegt gemäss der aktuellsten sozialmedizinischen Statistik bei 92,6 Prozent. Diese bezieht sich auf das Jahr 2020. Durchschnittlich sind somit im ganzen Kanton jederzeit über 1000 Pflegeheimplätze frei.
Angst vor dem Pflegeheim
Müssen überhaupt neue Altersheime gebaut oder mit zusätzlichen Pflegeplätzen aufgestockt werden? Die schwache Nachfrage in Münsingen spricht da eher dagegen. Schon länger registriert die Kommunikationsbeauftragte der Tilia-Stiftung, Christine Chappuis, bei den älteren Menschen eine Zurückhaltung, ins Pflegeheim zu ziehen. Seit rund zehn Jahren gebe es in der Stadt und Agglomeration Bern keine Wartelisten mehr.
«Die meisten Leute kommen erst, wenn sie schon sehr krank sind», stellt Chappuis fest. Die Spitex und private Pflegedienste erlaubten es den Leuten, länger zu Hause und ziemlich selbstständig zu bleiben.
Die Corona-Pandemie hat diesen Trend noch verschärft. Chappuis vermutet, dass die Leute grössere Angst haben, ins Pflegeheim zu wechseln. «Das Pflegeheim ist wie ein Brennglas, das den Umgang der Gesellschaft mit dem Sterben in den Fokus rückt», sagt sie. Dadurch sei in den Köpfen nun wohl präsenter, dass die Leute dort sterben. Zu diesem Schluss kommt sie, weil durch die Pandemie Todesfälle im Pflegeheim überhaupt publik wurden. Unter normalen Umständen ist das Sterben im Altersheim kaum je von öffentlichem Interesse.
Zudem seien die Besuchseinschränkungen einschneidend gewesen, sagt Chappuis. Bleiben die Leute in ihren eigenen vier Wänden, könnten sie im Falle eines weiteren Lockdown selber bestimmen, wann sie wen zu sich einladen. «Sie behalten ihre Autonomie und müssen ihr Zuhause noch nicht aufgeben.»
Auch die kantonale Gesundheitsdirektion registriert, dass sich Menschen vermehrt ein autonomes Leben wünschen. Trotzdem geht sie davon aus, dass die Nachfrage nach Pflegeheimplätzen in den nächsten Jahren zunehmen wird. Sie begründet dies mit der steigenden Anzahl von Personen über 80 Jahre.
Stärkere Auslastung auf dem Land
Münsingen folgt mit seinen über 12’000 Einwohnerinnen und Einwohnern und der tiefen Nachfrage eher dem städtischen als dem ländlichen Trend. Denn im Emmental zum Beispiel sieht es schon anders aus: Das Alterszentrum Sumiswald (Sumia) ist laut Geschäftsführer Patrik Walther zu 98 bis 100 Prozent ausgelastet. Das liegt deutlich über dem kantonalen Durchschnittswert von knapp 93 Prozent.
Walther verweist auf die Weitläufigkeit der Region: Auf dem Land ist die ambulante Betreuung zu Hause aufwendiger als in der Stadt und der Agglomeration. Trotzdem zügeln die Leute durchschnittlich erst mit 87 Jahren ins Sumia.
Im Gegensatz zu grösseren Gemeinden wie Bern, Münsingen oder Langenthal, wo neue Pflegeplätze geschaffen werden, mussten in Sumiswald und Umgebung in den letzten Monaten drei Kleinstheime aus unterschiedlichen Gründen schliessen.
Luxus – aber kaum Individualität
Auf dem Rundgang durch die Senevita Dorfmatt in Münsingen bestätigt sich die Zurückhaltung älterer Leute: Aufgrund der Erfahrungen aus der Pandemie würden sie eher zögern, hier einzuziehen, sagen einige. Denn: In diesem Alterszentrum mit mehrheitlich betreuten Wohnungen würden im Falle eines erneuten Lockdown dieselben Vorgaben gelten wie in einem Altersheim mit Pflegebetten.
Doch die Zurückhaltung zeigt sich bei manchen auch in Bezug auf die Preise. Obwohl die Rückmeldungen laut Geschäftsführerin Weishaupt mehrheitlich positiv sind, wird gelegentlich die Frage aufgeworfen, wer sich denn das leisten könne. Eine betreute Wohnung kostet monatlich zwischen 3000 und 6000 Franken. Dienstleistungen wie eine wöchentliche Reinigung oder ein 24-Stunden-Notrufdienst sind inbegriffen.
Die Senevita schreibt auf ihrer Website über das neue Zentrum, es sei viel mehr als ein Altersheim. Das sechsstöckige Gebäude verströmt denn zum Teil auch eher Hotel- als Altersheimatmosphäre.
Von der Badewanne aus, die auf der Pflegestation steht, kann man einen Film schauen: Ein grosser Flachbildschirm hängt an der Wand. Kantine gibt es keine, dafür ein öffentliches Restaurant, das von einer renommierten Köchin geführt wird. Das Mittagessen dort ist für alle inbegriffen, egal ob man auf der Pflegestation oder in einer betreuten Wohnung weilt. Grundsätzlich kann es nicht rausgestrichen werden.