Heikle Passagen bei der A1: Die Wildtiere stehen bei der Autobahn an

Die Routen für Reh, Hirsch und Gämse sind an mehreren Stellen im Kanton Bern gekappt. Bald erhalten sie eine neue Passage – doch nur zweiter Klasse.

Im Hintergrund bedeckt der Wald die Hügel, das Schilf bewegt sich im Wind, und unter der Autobahnbrücke fliesst die Aare hindurch. Doch ein Plätschern ist bei dieser Unterführung in Wangen an der Aare kaum zu hören. Es wird vom Rauschen der Fahrzeuge auf der A1 übertönt.

Die Ost-West-Achse vernetzt Menschen von Genf bis St. Gallen. Für Wildtiere stellt sie allerdings ein Hindernis dar. Rehe, Hirsche, Gämsen und Wildschweine können sich vom Berner Oberland ins Emmental und weiter in den Oberaargau bewegen, wenn auch in einem lückenhaften Verkehrsnetz. Erst seit rund zwanzig Jahren gibt es im Mittelland auch Hirsche. Im Längwald fühlen sie sich laut Wildhüter Jürg Knutti wohl. Doch wollen sie weiterziehen, wie aktuell während der Brunft, stehen sie an.

Ausgerechnet hier, wo sich ihnen der Jura auftut. Nur die kaum überwindbare Autobahn trennt sie vom weitläufigen Wald über die Jurakette.

«Auf dieser Route unter der Autobahn hindurch hat es zu viele Spaziergängerinnen und Hündeler», sagt Jürg Knutti. Höchstens Wildschweine würden sie nutzen. Für Rehe und Hirsche sei der Weg allerdings zu schmal und zu belebt.

Zerschnittene Routen

Nicht nur im Oberaargau, auch an vielen anderen Stellen im Kanton Bern sind die Wanderrouten der Wildtiere gekappt. In Münchenbuchsee bei der sogenannten Lätti etwa ist der Durchgang für Tiere «beeinträchtigt», von Utzenstorf nach Koppigen ebenfalls, wie es auf der Kartenansicht des Bundesamtes für Umwelt heisst. Und in Mühleberg ist das Verkehrsnetz der Tiere zwar momentan noch «weitgehend unterbrochen», eine Wildtierbrücke ist aber geplant.

Lange hatte man das Vernetzungssystem der Tiere nicht auf dem Radar. Erst seit knapp dreissig Jahren bemühe man sich darum, dort Passagen zu schaffen, wo ihre Korridore zerschnitten seien, sagt Jürg Schindler später am Telefon. Er ist Fachbereichsleiter für Lebensräume und Arten beim kantonalen Amt für Landwirtschaft und Natur.

Als Pionierbau gilt die Wildtierbrücke beim Grauholz auf der A1. Sie wurde 1995 eingeweiht, und auf ihr wachsen Büsche und Bäume. Ihr Makel: Sie ist nur 23 Meter breit, wodurch sie von manchen Wildschweinen und Hirschen nicht genutzt wird. Auch im Emmental wurden Brücken errichtet. Eine in Birchiwald bei Kirchberg, eine andere bei Utzenstorf.

Beim Burgäschisee, der die Kantone Bern und Solothurn miteinander verbindet, gibt es eine Unterführung. Jedoch nur für kleinere Tiere wie Frösche und Kröten. Für grössere wie Rehe und Hirsche ist laut Schindler zwischen Kiesen und Thun beim kleinen Fluss Rotache eine Querungsmöglichkeit unter der Autobahn hindurch kurz vor der Vollendung. In Münchenbuchsee hingegen rechnet der Fachbereichsleiter frühestens in zwanzig Jahren mit einer Passage über die Autobahn – obwohl heute bereits Handlungsbedarf bestünde.

«Es gibt mehrere Hotspots, wo eine Wildtierquerung dringend nötig wäre», sagt Schindler. Dazu gehöre unter anderen die Bahn 2000 auf der Höhe von Herzogenbuchsee. Hier komme es regelmässig zu Kollisionen mit Rehen. Doch eine Passage koste mehrere Millionen Franken, schätzt er.

Zweite Wahl

Auf dem A1-Abschnitt im Oberaargau hat Wildhüter Jürg Knutti für die Rehe, Hirsche, Wildschweine und Gämsen auf eine Brücke gehofft. Vorzugsweise eine zwischen Wiedlisbach und Niederbipp. Stattdessen ist nun eine Unterführung in Wangen an der Aare geplant. Sie wird gleichzeitig wie die Erweiterung der Autobahn auf sechs Spuren gebaut. Das Projekt startet laut dem Bundesamt für Strassen (Astra ) frühestens 2024 und wird voraussichtlich acht Jahre dauern.

«Ich bin etwas enttäuscht», sagt Knutti. Die Unterführung an diesem Standort sei nur die zweitbeste Wahl. Trotzdem ist er froh, dass überhaupt etwas gemacht wird. Auch Jürg Schindler, kantonaler Fachbereichsleiter für Lebensräume, habe immer für eine Überführung plädiert. Aber: «Es ist besser als nichts.»

Weshalb gibt es keine Brücke? Das Astra begründet dies auf Anfrage mit der Topografie: «Aufgrund der Abflachung des Geländes hin zur Aare ist eine Unterführung sinnvoll.» Das bestehende Terrain liege bereits jetzt unterhalb der Fahrbahn der A1.

Der Wildhüter ist skeptisch: «Ich gehe davon aus, dass eine Überführung möglich, jedoch wesentlich teurer gewesen wäre.» Der Autobahnausbau auf der A1-Strecke Luterbach–Härkingen ist ein 886-Millionen-Projekt. Verhältnismässig wenig wird mit 6,5 Millionen für die Wildtierunterführung budgetiert. Zu den Kosten einer Wildtierbrücke kann das Astra keine Angaben machen, verrät aber, dass «im Sinne eines verantwortungsvollen und haushälterischen Umgangs mit Steuergeldern keine Wildtierüberführung geplant wurde».

Für Knutti hätte vieles für eine Brücke gesprochen – trotz der höheren Kosten. Käme die Wildquerung zwischen Wiedlisbach und Niederbipp auf der Autobahn hin, hätten die Tiere eine direkte Verbindung vom Längwald in den Jura. Neben den Kosten würde hier ihr Lebensraum mit demjenigen der Menschen konkurrenzieren: Zwischen Wiedlisbach und Niederbipp ist alles verbaut.

Zudem ist eine Unterführung für Rehe und Hirsche laut dem Wildhüter unnatürlich. Normalerweise bewegen sie sich unter freiem Himmel. «Der Wald wirkt für uns Menschen zwar je nach Dichte oben zu.» Doch wenn man hochschaue – er zeigt mit dem Finger auf eine Öffnung zwischen den Baumkronen –, sehe man immer ein bisschen Himmel. «Der Hirsch lebt nicht in einer Höhle.»

40 Meter Tunnel für die Fluchttiere

Damit der geplante Tunnel einer Höhle möglichst fremd bleibt, wird er grosszügig gestaltet: Er soll satte 30 Meter breit und 5,5 Meter hoch werden. Somit ist auch klar, dass ein ausgewachsener Rothirsch von zwei Metern mit seinem Geweih nicht an die Decke stösst. Die Länge könnte hingegen eine Herausforderung darstellen: Unter der sechsspurigen Autobahn müssen die Fluchttiere 40 Meter zurücklegen.

Die Wildtierquerung kollidiert oftmals mit den Interessen der Landwirtinnen und Waldbesitzer. Sie müssten Landstücke hergeben. Bei einer Brücke mehr als bei einer Unterführung.

«Die Hauptsorge der Bauern ist, dass mit einer Wildtierpassage Wildschweine vom Jura herkämen», sagt Knutti, der in regelmässigem Austausch mit ihnen steht. Doch die Wildschweine würden bereits jetzt unter anderem die vorhandene Unterführung der Spaziergänger nutzen. Ausserdem seien sie schon aus anderen Regionen in den Längwald gezogen.

Schutz vor Inzest

Und: «Die Passagen sind nicht nur dafür da, um von A nach B zu kommen», hält der Wildhüter fest. Sie dienen vor allem auch dem genetischen Austausch. Damit es nicht zu Gendefekten und Krankheiten kommt, müssen sich die Wildtiere ebenfalls mit denen auf der anderen Seite der Autobahn paaren können.

Damit die Wildtiere die Unterführung in Ruhe benutzen können, benötigen sie eine gute Deckung. In Wangen an der Aare erfüllt der Hofurewald, wo die Unterführung hinkommen soll, dieses Kriterium zwar. Jedoch müssen die Tiere vorher mehrere Felder überqueren. Daher braucht es eine Art Trichter, welcher zur Passage führt. Für Rehe und Hirsche seien Hecken, Bäume und Feldgehölze ideal.

Immerhin: Vom Autolärm lassen sich die Tiere nicht stören, meint Knutti. Wichtig sei bei der Unterführung vor allem der Lichteinfall von oben.

Sobald eine neue Querung hinzukommt, tradieren die Wildtiere diese genau wie all ihre Routen. Heisst, die Eltern geben sie der jungen Generation weiter.