Warum stehen da fast nur Weisse auf der Bühne?

Kay Wieoimmer aus Bern war an Gedichtwettbewerben oft die einzige Person of Color. Deshalb veranstaltet er nun die Lesebühne «Poetry of Color».

Kay sitzt in seinem Wohnzimmer im Berner Breitenrainquartier. Morgensonne durchflutet den Raum. Vor dem Balkonfenster stehen mehrere Zimmerpflanzen und vor ihm zwei Tassen: eine mit Tee, die andere mit Kaffee. Sie wärmen ihn nach dem Fototermin an der kalten Herbstluft.

Er ist mit 17 Jahren zum ersten Mal an einem dieser Gedichtwettkämpfe aufgetreten, an einem sogenannten Poetry-Slam. Sein Künstlername ist Kay Wieoimmer, seinen bürgerlichen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Als er mit Poetry-Slam anfing, gab es für ihn nur zwei Vorbilder, die von ähnlichen Erfahrungen erzählen konnten: Fatima Moumouni und Amina Abdulkadir. Beide thematisierten schon damals in ihren Slam-Texten unter anderem diskriminierende Strukturen in der Gesellschaft.

Nebst den beiden fehlten ihm andere Poetinnen und Poeten, die Heimat auch nur schwer definieren konnten. Die das mulmige Gefühl auch kannten, wenn die Polizei vorbeifuhr – wegen einer potenziellen Kontrolle. Oder die auch ständig mit der Frage konfrontiert waren: «Woher kommst du?» Dann antworteten sie etwa: «Aus Bern.» Woraufhin die Nachfrage folgte: «Aber woher kommst du wirklich?»

Komplexe Identität

Der heute 27-Jährige ist in Walkringen im Berner Mittelland aufgewachsen. Seine Mutter ist Schweizerin, sein Vater aus Brasilien. Er erzählt, dass die Zeit im Gymnasium Burgdorf nicht immer einfach gewesen sei. «Für andere war es okay, Witze über meine Hautfarbe zu machen.» Doch er habe die Erfahrung gemacht, dass Weisse im Gegenzug nicht gerne über die eigene Hautfarbe sprachen. Einmal sei ihm gesagt worden: «Klar hast du nicht gerne Schnee. Du bist auch kein richtiger Schweizer.» Dies, obwohl er in der Schweiz geboren ist.

Hinter wie auch auf der Bühne hatte Kay oft das Gefühl, er müsse «hin und her tänzeln zwischen seinen Identitäten». Bereits da wusste er, er möchte sich mit einem neuen Format für mehr Diversität in der Szene engagieren.

Für seine komplexe Identität hat er einen Ausdruck gefunden, den auch seine Freundinnen und Freunde in ihren aktiven Wortschatz aufgenommen haben: Nini. Er leitet sich vom französischen «Ni l’un, ni l’autre» ab, also weder das eine noch das andere.

Kay sagt, dass er oft für die Quote zu einem Poetry-Slam eingeladen worden sei – als Person of Color. Vor fünf Jahren wurde er einmal so angekündigt: «Kay kommt wieder mal mit seinem bekannten Thema.» Gemeint waren Rassismuserfahrungen. Da dachte er sich: Es kann doch nicht sein, dass er meistens der Einzige ist, der etwas zu diesem Thema zu sagen hat. Als dann die Black-Lives-Matter-Bewegung letztes Jahr Aufschwung bekam, wusste er: Das ist der Zeitpunkt.

Eine Lesebühne für das Gemeinschaftsgefühl

Nach dem ersten pandemiebedingten Lockdown Ende Mai 2020 organisierte der freischaffende Künstler erstmals ein «Poetry of Color». Im Gegensatz zu sonstigen Poetry-Slams – wo gewinnt, wer am meisten Applaus erhält – geht es bei dieser Lesebühne nicht um Konkurrenz. «Der Anlass soll das Zusammensein stärken.» Jeweils rund fünf People of Color treten dabei auf.

Im letzten Mai gab es an der Tour de Lorraine unter dem Motto «Tour décolonial» ebenfalls ein «Poetry of Color».
Quelle: Youtube

Der Berner will mit diesen Lesebühnen zeigen: «Wenn ich fünf People of Color auf die Bühne holen kann, sollten es andere Veranstaltende auch schaffen.» Dass das möglich ist, zeigte sich für ihn an einem internationalen Poetry-Slam-Festival vor drei Jahren in Lausanne. Dort traten mit ihm mehrere schwarze Personen auf.

Neues Selbstvertrauen

Inzwischen hat er bereits achtmal ein «Poetry of Color» veranstaltet. Ihn freut es, zu sehen, wie unter 20-Jährige dabei auftreten: «Sie sprechen mit mehr Selbstvertrauen über politische Themen und Diskriminierung als ich damals in ihrem Alter.»

Seine Freude an der Sprache gibt er nicht nur mit diesen Lesebühnen weiter, sondern auch bei Workshops an Schulen. Er wünscht sich, dass Ninis in Zukunft nicht mehr aufgrund ihrer Migrationsgeschichte zusätzlich um Anerkennung kämpfen müssen.

Nächstes Poetry of Color: Mi, 20.10., 19.30 Uhr, im Haus der Religionen in Bern.